Sie sind jetzt nur noch auf dem Handy bei ihnen: Rezkallal Alnasouh (52, links) musste am 27. April erleben, wie das Jugendamt seine zwei Söhne Mohammad (10) und Abdul Aziz (6) aus seiner Wohnung holte. Mit seinem großen Sohn Mustafa (26, rechts) kämpft er um das Sorgerecht für beide. Uns hat er erzählt, warum es wirklich zu der eskalierenden Inobhutnahme kam. Sein Video davon hat sich millionenfach im Internet verbreitet, befördert auch durch abstruse Fake News. Foto: Scheschonka
Muslim-Feindlichkeit?

Brisantes Video aus Bremerhaven geht um die Welt: Das ist die wahre Geschichte

18.05.2023

Keine Muslimfeindlichkeit, sondern harte Schicksalsschläge sind in Wahrheit der Grund dafür, dass das Jugendamt Bremerhaven einer muslimischen Familie zwei kleine Söhne abgenommen hat.

Weltweit hat sich das Video von einer Inobhutnahme zweier muslimischen Jungen via Internet verbreitet. Das in Bremerhaven entstandene Video wurde millionenfach gesehen, und es empört nach wie vor Muslime in vielen Ländern der Erde - auch deshalb, weil es in Social Media mit Behauptungen wie diesen zirkuliert:

  • Deutsche Polizisten entführen mit Gewalt muslimische Kinder.
  • Deutsche Jugendämter nehmen muslimischen Familien die Kinder weg, wenn diese sie nicht zu Toleranz für Homosexualität erziehen.
  • Die den Eltern entrissenen Kinder werden dann Schwulen zur Erziehung überlassen.

Auf Deutsche wirken diese durch nichts belegten Internet-Spekulationen absurd, in muslimischen Ländern werden sie teils geglaubt. Das zeigen Tausende wütender Kommentare gegen den Westen, gegen Deutschland, gegen die Polizei und gegen das Jugendamt in Bremerhaven in Social Media.

Das Video mutierte zur Waffe im Glaubenskampf gegen den Westen

Fake News statt Fakten: So wurde das 4.12 Minuten lange Video mit den erschütternden Szenen von dem Einsatz der Polizei und des Jugendamtes Bremerhaven als Waffe im Glaubenskampf gegen den Westen instrumentalisiert.

Die beklemmenden Bilder vom Herauszerren eines bitterlich schreienden kleinen Jungen aus der Wohnung seiner Familie durch Polizei und Jugendamt wurden international zum scheinbaren Symbol für die Muslimfeindlichkeit des Westens.

Selbst der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan soll das Video gesehen und deswegen geweint haben.

Was aber sind die wahren Gründe für die verstörende Aktion in Bremerhaven? Dazu äußern sich weder die unterstützende Polizei noch das zuständige Jugendamt. Durch ihr Schweigen wollen sie die Familie und die Kinder schützen. Faktisch bewirkte das aber auch, dass die Wahrheit nicht bekannt und den Fake News nichts entgegengesetzt wurde.

Fragen des Glaubens spielten überhaupt keine Rolle

Die Nordsee-Zeitung hat deshalb mit der betroffenen Familie gesprochen. Die Zeitung hat erfahren, warum das Jugendamt ihr die zwei Jungen abgenommen hat. Und jetzt ist klar: Fragen des Glaubens spielten dabei überhaupt keine Rolle.

Hier die tatsächlichen Hintergründe, so wie sie die Familie uns berichtet hat, so wie sie sich in Schreiben des Amtsgerichts nachlesen lassen - und die Geschichte hinter dem beklemmenden Video:

2012 verlässt die Familie Alnasouh wegen des Bürgerkrieges ihre Heimat in Syrien. Rezkallal Alnasouh (heute 52), der Vater der Familie, will nicht gegen seine Landsleute kämpfen, verkauft sein Haus in Idlib. Die Alnasouhs (die Eltern, zwei kleine Mädchen und ein Junge im Babyalter) fliehen in den Libanon. Dort leben sie drei Jahre.

Die Flucht verschlang den Erlös ihres Hausverkaufs

2015 geht ihre Flucht weiter. Mit ihren drei kleinen Kindern fliehen sie durch Syrien bis in die Türkei, teils zu Fuß. Später folgt die lebensgefährliche Überfahrt in einem Boot nach Griechenland. Alles geht gut. Über Serbien erreicht die Familie Deutschland. Sie kommen dort verarmt an. Die Flucht war teuer: Sie hat den gesamten Erlös des Hausverkaufs verschlungen, Schlepper haben sich auch an diesen Flüchtlingen bereichert.

Über München und Stuttgart gelangen die Alnasouhs nach Bremen. Warum haben sie Bremen als Ziel auserkoren? Landsleute hatten ihnen dazu geraten. Unter Syrern kursiert: "In Bremen kommt man am schnellsten zu den Papieren".

Seit 2015 leben sie in Bremerhaven-Leherheide

Seit 2015 leben die Alnasouhs in Bremerhaven - im vierten Stock eines Wohnblocks der Gewoba in Leherheide. Ab 2016 ist die Familie zu sechst: Ihr Jüngster wird in Deutschland geboren. Die älteren Mädchen besuchen die Schule, lernen Deutsch, ihre kleinen Brüder gehen später in den Kindergarten.

Nach einigen annehmbaren Jahren in der ersehnten Fremde aber zerbricht die Familie: Die Eltern streiten sich immer öfter. Die Mutter will ein anderes Leben, verlässt ihren Mann und ihre vier Kinder. Im Juni 2019 wird die Ehe geschieden. Dem Vater wird das Sorgerecht für alle vier Kinder zugesprochen - die Mutter hat Depressionen. Er arbeitet nicht, kümmert sich um seine Kinder.

Nach der Scheidung erleidet der Vater einen Schlaganfall

Vier Monate nach der Scheidung, am 14. Oktober 2019, erleidet Rezkallal Alnasouh einen Schlaganfall. Seine älteste Tochter rettet ihren Vater nachts um vier durch ihre rasche Reaktion: Sie ruft den Krankenwagen. Die Sanitäter bringen den Syrer ins Krankenhaus - und sie informieren die Behörden darüber, dass in Leherheide nun vier Kinder ohne Betreuung alleine zuhause sind.

Das Jugendamt sorgt dafür, dass die vier Kinder bei Pflegefamilien und in Heimen unterkommen. Zwei der Geschwister bleiben zusammen, zwei werden einzeln untergebracht. Die Mutter fort, der Vater mit Schlaganfall im Krankenhaus, die vier Kinder an drei verschiedenen Orten: die bisher größte Krise für die Familie aus Syrien.

Die Familie hat einen starken Zusammenhalt

Die Familie hat gleichwohl einen starken Zusammenhalt, will unbedingt wieder zusammenkommen. Der Vater verlässt das Krankenhaus schon nach 14 Tagen wieder, obwohl er länger bleiben soll. Wichtiger ist ihm: Er will seine Kinder wieder zu sich holen.

Die großen Schwestern setzen sich aus ihrer Pflegefamilie und ihrem Heim ab; ziehen wieder nach Leherheide zu ihrem Vater. Auch der größere Junge kommt wieder hinzu. Der kleinste Junge (2016 geboren) bleibt in einem Heim in Spaden - zwei lange Jahre. Bis auch er im April 2021 wieder zu seinem Vater und seinen Geschwistern kommt.

Die Alnasouhs kommen nicht mehr zur Ruhe

Zur Ruhe aber kommt die Familie nie mehr: Die mittlerweile in Mannheim lebende Mutter lockt ihre älteste Tochter zeitweise zu sich, verstößt sie aber nach einigen Monaten wieder. Das verstörte Mädchen versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie überlebt, kehrt zu ihrem Vater zurück.

Immer wieder sendet die Mutter widersprüchliche Signale, mehrfach brechen ihre Töchter zu ihr auf. Die Mädchen versuchen, ihre Eltern wieder zusammenzubringen. Es gibt Versöhnungen - und immer neue Trennungen. Die Eltern finden einfach nicht mehr zusammen.

Das Jugendamt fragt sich: Kann der Vater sich um die Kinder kümmern?

Das Jugendamt findet die daraus resultierende Situation für die Kinder sehr belastend. Und die Familienhelfer fragen sich: Kann der Vater, des Deutschen nicht mächtig und an den Folgen seines Schlaganfalls leidend, sich wirklich genügend um seine Kinder kümmern?

Hinzu kommt: Der jüngste Sohn - heute sechs Jahre - zeigt Auffälligkeiten. Zeitweise wirkt er abwesend, macht krampfartige Bewegungen. Im Juni 2022 wird er im Klinikum Reinkenheide stationär wegen des Verdachts auf Absencen (eine seltene Form der Epilepsie im Kindesalter) untersucht. Der Befund ist nicht eindeutig.

Die Familie ist sich sicher: Ihr kleiner Abdul Aziz hat diese Symptome erst seit seiner Zeit im Heim. Und sie argwöhnt auch, dass dem Jungen dort Verletzungen beigebracht wurden. Von anderen Kindern? Abdul sagt es nicht konkret.

Das Familiengericht ordnet eine Vormundschaft an

Das Jugendamt regt wegen der Gesamtsituation beim Familiengericht die "Einrichtung einer Vormundschaft" an. Das Gericht folgt dieser Empfehlung - für alle vier Kinder. Familienhelfer kümmern sich um die Familie, werden dort aber nicht gerne gesehen.

2022 schlägt das Jugendamt dem Vater vor, alle vier Kinder "gemeinsam fremd zu platzieren" - also zusammen woanders leben zu lassen. Rezkallal Alnasouh lehnt das ab. Stattdessen kämpft er darum, das Erziehungsrecht für seine Kinder zurückzubekommen. Die Mutter zieht sich jetzt völlig zurück. Im November 2022 wird ihm das Sorgerecht für seine vier Kinder zurückübertragen.

"Die Entwicklung der Kinder ist stark beeinträchtigt"

Am 17. März 2023 aber stellt das Jugendamt beim Familiengericht den Eilantrag, dem Vater das Sorgerecht für seine Kinder wieder zu entziehen - ohne vorherige Anhörung. In diesem Antrag heißt es: "Es besteht keine akute Kindeswohlgefährdung, jedoch ist die Entwicklung der Kinder stark beeinträchtigt."

Schon drei Tage später beschließt das Amtsgericht Bremerhaven, dem Vater die elterliche Sorge für alle vier Kinder wieder zu entziehen und dem Jugendamt Bremerhaven als Vormund zu übertragen.

Gericht: "Notfalls unter Anwendung von Gewalt"

Als der Vater sich weigert, seine beiden kleinen Söhne (sechs und zehn Jahre alt) an das Jugendamt herauszugeben, erlässt das Amtsgericht am 26. April die einstweilige Anordnung, dass er dies zu tun hat. Das Gericht beauftragt einen Gerichtsvollzieher, die Kinder dem Jugendamt "zuzuführen" - "notfalls unter Anwendung von Gewalt".

Genau so kommt es dann einen Tag später: Morgens um 8 Uhr erscheint das Jugendamt an der Tür der Familie Alnasouh im vierten Stock in Leherheide - begleitet von drei Polizeibeamtinnen und einem Polizeibeamten.

Eine Stunde wird versucht, die Söhne zum Mitgehen zu bewegen. Wie die zwei älteren Töchter berichten, wollen ihre Brüder aber nicht gehen. Schließlich zerren eine Polizeibeamtin und eine Mitarbeiterin des Jugendamtes den bitterlich schreienden und sich wehrenden Jungen aus der Wohnung. Sein Bruder geht ohne Gegenwehr mit. Sie sollen in einen Polizeiwagen gebracht und an ein unbekanntes Ziel gebracht worden sein.

Die Familie hat seither keinen Kontakt mehr zu ihren Jungen. Sie vermutet, dass sie jetzt in Bremen leben. Wo, das weiß sie bislang nicht.

Über WhatsApp gelangt das Video in die Welt

Das Video vom eskalierenden Finale der Inobhutnahme hat der Vater gemacht. Das Herauszerren seines Jungen aus seiner Wohnung wurde damit ebenso öffentlich wie das Handgemenge seiner Töchter mit den Beamten und etliche Beleidigungen auf Deutsch und Arabisch.

Nach der Aktion soll er das brisante Video seinem WhatsApp-Status hinzugefügt haben. Bekannte sollen es dort gesehen, runtergeladen und geteilt haben. So soll es seinen Weg ins Internet gefunden haben.

Noch am gleichen Tag veröffentlicht ein indonesischer Journalist mit viel Reichweite das Video auf seinen Social Media-Kanälen. Mit diesen Worten überschrieb er den kurzen Film: "Wie ich aus Deutschland mitbekommen habe: gewaltsame Entführung von Kindern einer muslimischen Familie! Die Entführung wurde von der Jugendhilfestiftung durchgeführt, begleitet von Polizeikräften." (Übersetzung aus dem Arabischen).
Allein sein Tweet dazu wurde bislang 18,7 Millionen mal gelesen, rund 7400 mal weitergeleitet und über 2400 Mal kommentiert (Stand 12. Mai 2023).

Die Gerüchte werden immer absurder

Andere Akteure in Social Media verbreiteten das Video ohne jeden Beleg mit der Behauptung, dass der kleine Junge gewaltsam aus seiner Familie entfernt wurde, weil diese ihm beigebracht habe, "dass Homosexualität und Transsexuelle im Islam nicht akzeptabel sind". Mittlerweile wird sogar behauptet, die beiden Jungen seien jetzt Homosexuellen zur Erziehung anvertraut worden.

Der Vater und die beiden Töchter der Familie Alnasouh betonen, dass sie mit diesen Behauptungen nichts zu tun haben und diese Fake News bei den vielen Medienanfragen aus der muslimischen Welt auch dementiert haben. Ihnen liegt sehr daran, dass auch die Menschen in Bremerhaven das wissen.

Vorwurf der Familie: "Das Jugendamt hat kein Herz"

Dem Jugendamt Bremerhaven werfen sie vor, "kein Herz" zu haben. Sie kündigen an, "alles zu tun", um ihre zwei Jungen wieder zu sich zu holen.

Die Familie hat jetzt einen renommierten Anwalt für Familienrecht aus Bremerhaven beauftragt, in diesem Sinne für sie zu kämpfen.

Auch mit dem ältesten Sohn von Rezkallal Alnasouh, der seit einem Jahr in Deutschland ist und jetzt bei ihnen lebt, verbindet sie große Hoffnungen: Er ist 26 Jahre, gesund - und will sich um seine Geschwister und um seinen Vater kümmern.

Die Familie will, dass ihm das Sorgerecht für die vier minderjährigen Kinder übertragen wird.

Von Christian Lindner

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