Joachim Gauck: Tiefe Zuneigung zur Freiheit
BAD BEDERKESA. Einen Redner, der seine Zuhörer auf so nüchterne Weise so emotional berührt, gibt es selten. Nach seiner Buchvorstellung im evangelischen Bildungszentrum bleibt Joachim Gauck noch lange sitzen und signiert Bücher - inmitten von Menschen, die noch mehr wissen wollen, über ihn und über sein Leben. Und er nimmt sich Zeit. Denn er will Zugang verschaffen, Zugang zu einer "fremden Lebenswelt". Zu einer, die wohl niemand restlos verstehen kann, der sie nicht am eigenen Leib erfahren hat.
"Winter im Sommer - Frühling im Herbst" steht auf dem Buchdeckel, den Joachim Gauck erst nach einiger Zeit aufklappt, um zu lesen. Sein Buch gibt die Erinnerungen eines Lebens in einem Land der Widersprüche wieder - der DDR. Seine Stimme ist tief und ruhig. Alle lauschen gebannt den Erzählungen und Anekdoten, die Joachim Gauck zu seiner Lesung noch hinzufügt.
Er beschreibt seine idyllische Kindheit an der Ostsee, auf dem Darß. Erste Erinnerungsbilder: die Familie, Mutter, Tante, Großmutter. Das Meer, das Gewitterdunkel. Elf Jahre ist er, als seine Kindheit vorbei ist. Der Vater wird 1951 abgeholt. Angeklagt wegen Spionage. Zweimal 25 Jahre Haft. Abtransport nach Sibirien. Die Familie erfährt davon nichts.
Eindringlich schildert der heute 70-Jährige die verzweifelten Versuche seiner Großmutter, ihren einzigen Sohn zu finden, den Kampf seiner Mutter, ihre vier Kinder durchzubringen.
Joachim Gauck spürte, dass er in einem Unrechtsstaat lebte. Er distanzierte sich vom DDR-System, studierte Theologie in Rostock und wurde Pfarrer. Die DDR verlassen wollte er zu keinem Zeitpunkt.
Schwer zu schaffen macht ihm die Ausreise seiner Söhne, die im Westen studieren, ein besseres Leben wollen. Die Schmerzlichkeit dieser Trennung beschreibt Gauck mit eindringlichen Worten: "Ich wünschte mir, sie würden bleiben und die Reihen der Andersdenkenden verstärken. Sie gehören doch zu uns, sagte mir mein Herz, zu denen, die alles verändern wollen, zu denen, die nicht fliehen, sondern stehen."
Wenn Gauck Passagen wie diese vorliest, breitet sich fühlbare Ergriffenheit im Publikum aus. Die Emotionalität seines Vortrags ändert sich natürlich auch dann nicht, wenn er auf mitreißende Weise die Demonstrationen von 1989 beschreibt. Er unterbricht sich beim Lesen, erzählt mit leuchtenden Augen: "Das ist das Größte: Wenn Menschen, die immer zu allem geschwiegen haben, plötzlich aufstehen, für die eigene Freiheit eintreten."
Von Christian Mangels

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