
Vor 75 Jahren befreiten britische
Truppen am 29. April 1945
das Kriegsgefangenenlager
(Stalag) X B Sandbostel im Norden
Niedersachsens. Neben etwa 14.000
Kriegsgefangenen befanden sich zu diesem
Zeitpunkt auch etwa 7.300 KZ-Häftlinge
in einem separat eingerichteten
Bereich im Stalag X B.
Völlig bestürzt über die dortigen Zustände
beschrieb der britische Militärarzt Robert
Barer die Befreiung des Lager in Sandbostel
im Brief an seine Ehefrau: „Ich werde Sandbostel
nie vergessen. Es war sehr viel kleiner
als Belsen, aber das individuelle Leiden war
das gleiche. Ich hatte über einige Dinge,
die über Belsen geschrieben worden waren,
gelacht, aber jetzt glaube ich alles.“ Nur
über den Vergleich der Zustände im KZ-Bereich
in Sandbostel mit der Befreiung des
KZ Bergen-Belsen als Bezugsgröße gelingt
es Robert Barer, den „Anblick, vollkommen
unwirklich und jenseits allen menschlichen
Verständnisses“ in Worte zu fassen.
Bereits neun Tage vor der Befreiung am
29. April 1945 hatte ein internationales
Komitee von Kriegsgefangenen unter der
Leitung des französischen Colonel Marcel
Albert eine notdürftige Versorgung der
KZ-Häftlinge eingerichtet. Trotz der Bemühungen
des Komitees starben jedoch Tausende
der insgesamt 9.500 KZ-Häftlinge,
die die SS ab Mitte April 1945 auf Todesmärschen
nach Sandbostel brachte. Nach
der Befreiung übernahmen die Briten die
medizinische Versorgung, dennoch starben
weitere 500 KZ-Häftlinge an Erschöpfung
und Krankheiten.
Bis zur Befreiung durchliefen über 313.000
Kriegsgefangene, Zivilinternierte und
KZ-Häftlinge das Stalag X B. Die polnischen
Kriegsgefangenen waren die ersten Kriegsgefangenengruppen,
die im September
1939 in das sich noch im Aufbau befindliche
Kriegsgefangenenlager nach Sandbostel
kamen. In Folge des Kriegsverlaufs brachte
die Wehrmacht weiter französische, belgische,
englische, amerikanische, serbische
und sowjetische Kriegsgefangene sowie
italienische Militärinternierte in das Lager.
Die Behandlung der Kriegsgefangenen war
in internationalen völkerrechtlichen Verträgen
geregelt. Im Lageralltag jedoch verstieß
die Wehrmacht mehrfach gegen diese
Regelungen. Die Ungleichbehandlung der
verschiedenen Kriegsgefangenengruppen
nach rassistischer NS-Ideologie betraf vor
allem die sowjetischen Kriegsgefangenen.
Tausende von sowjetischen Kriegsgefangenen
verhungerten oder starben an Misshandlungen,
Tötungen und Krankheiten.
Der Moment der Befreiung hatte für die
Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge verschiedene
Bedeutungen. Viele empfanden
den Moment als Erleichterung über das
Ende der Gefangenschaft wie der ehemalige
KZ-Häftling Jean Le Bris aus Frankreich
berichtete: „Dieser so sehr erwartete, so
sehr erhoffte Moment ist einzigartig. Große
Freude, wahnsinniges Glück. Ja, aber auch
große Angst: Wo sind die anderen, die wir
vor acht Monaten aus den Augen verloren?
Sind sie noch am Leben?“ Spürbar an
dieser Aussage ist neben der Freude auch
die Sorge vor der Zukunft. Viele Gefangene
erlebten die Befreiung und starben nur wenige
Tage danach, wie sich der sowjetische
Kriegsgefangene Dmitrij B. Lomonossov
erinnerte: „Bei vielen hielt der Magen das
viele Essen nicht aus. Sie erkrankten an
Hungerdurchfall und starben – nachdem
sie die Qualen der Gefangenschaft bis zum
Einmarsch des britischen Musik Corps
in das befreite Stalag X B
Schluss durchgehalten hatten – am Überfluss.“
Die meisten Gefangenen hatten nach
ihrer Befreiung ihr ganzes Leben lang mit
den physischen und psychischen Folgen
der Gefangenschaft zu kämpfen.
Termine:
Den 75. Jahrestag der Befreiung
nimmt die Stiftung Lager Sandbostel
zum Anlass für eine Reihe von Veranstaltungen
rund um das Befreiungsdatum
29.April 2020:
Am Mittwoch, 29. April, gedenkt
die Stiftung Lager Sandbostel den
Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen,
die im Stalag X B gelitten haben oder
verstorben sind. Die Gedenkveranstaltung
beginnt um 16 Uhr auf der
Kriegsgräberstätte Sandbostel, dem
ehemaligen Lagerfriedhof. Geplant
sind eine multireligiöse Gebetsreihe
und eine offizielle Kranzniederlegung.
Im Anschluss wird der niedersächsische
Ministerpräsident Stephan
Weil in der ehemaligen Lagerkirche
eine Rede halten. Neben einem
Jugendbeitrag werden zudem Angehörige
ehemaliger Häftlinge und
Befreier zu den Gästen sprechen.
Vom 8. Mai bis zum 2. September
verweist die Sonderausstellung „Die
dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“ in
der Gedenkstätte Lager Sandbostel
auf die weltweite Dimension des
Zweiten Weltkriegs fernab einer europazentrierten
Geschichtserzählung.
Alle Veranstaltungen finden in der
Gedenkstätte Lager Sandbostel statt
und sind kostenfrei.
Für weitere Informationen:
www.stiftung-lager-sandbostel.de
OSTELANDMAGAZIN 2020 35
Foto: George Chertier
„Ich werde
Sandbostel
nie vergessen“
Gedenkveranstaltung anlässlich des 75. Jahrestages
des Stalag X B am 29. April