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16 Ringelnatz – ein Schauspieler seiner Gedichte Ringelnatz - „ein Schauspieler seiner Gedichte“ An Muschelkalk, wie Ringelnatz seine Frau Leonharda Pieper zärtlich nennt, schreibt der so Angepriesene am 2. September: „Also hör von meinem Debüt. Ich war als 6. Nummer angesetzt und das Publikum empfing mich misstrauisch und sah z. T. sehr beschränkt aus. Ich hatte einen großen Erfolg, musste ‚Kuttel Daddeldu und die Kinder’, und einer der Direktoren sagt mir: ‚Morgen kommen Sie als letzte Nummer dran’ …“. Dass dennoch einige im zu „90% begeisterten“ Publikum saßen, die noch nicht so ganz reif für Ringelnatzische Verse waren, ist dem am 4. September geschriebenen Brief an Muschelkalk zu entnehmen. „Es hat sich blödes Publikum gestern über mich beschwert. Ich soll Seemannstreue und ‚Krätze’ (1. Daddeldu) künftig weglassen, außerdem will der Direktor Zettel drucken und auf die Tische und in die Programme legen lassen, worin gesagt werden soll, wer ich bin.“ Letzteres wäre in Berlin, auch in München - da ganz besonders - vermutlich nicht nötig gewesen. Bei Kathi Kobus im „Simpl“ war er, damals noch Hans Bötticher, in den Jahren 1909 bis 1911 schließlich bereits zum „Hausdichter“ aufgestiegen, hatte sich in der Münchner Bohème und unter den Großen des Kabaretts von damals bewegt. „Ein höchst witziger und begabter Mann damals schon, als keiner von uns vermutete, daß er einmal den Namen Joachim Ringelnatz berühmt machen werde“, wie der Anarchist Erich Mühsam später in seinen Erinnerungen „Namen und Menschen“ schreiben sollte. Dem „Simpl“ entfloh Hans Bötticher zwar damals, Zum Schlusse Auftreten von: Joachim Ringelnatz“ heißt es, die Spannung des Publikums anheizend, auf dem Programmzettel von Hamburgs Kabarett „Vaterland Diele“ zum ersten Auftritt des „reisenden Artisten“ in jener Stadt, in der er als Hans Bötticher 1903 seine kaufmännische Lehre begonnen hatte. Und die Direktion von „Haus Vaterland“, dem „Weltstadt Varieté“, wie es sich nannte, griff gewaltig in die Tasten, um ihren 1921 erstmals verpflichteten „Star“ denn auch gebührend anzukündigen. „Nun haben wir ihn auch zum ersten Male in Hamburg, den seltsamen Dichter und Seemann, den wir bisher nur aus der Münchner „Jugend“, aus „Simplizissimus“, „Weltbühne“ und anderen modernen Zeitschriften kannten, den großen Weltverächter, der im Berliner „Schall u. Rauch“ und dann in anderen Städten so großes Aufsehen erregte...“, heißt es da mit spürbarem Kabarett-Direktoren- Stolz. Jedoch nicht ohne sich bei möglichem Besucher Unmut über eventuelle allzu große Freiheiten im Vorfeld abzusichern. Ringelnatz’ Sprache freilich sei „rücksichtslos frei; er scheut sich nicht vor derbsten Ausdrücken, und empfindsamere Damen seien in dieser Beziehung gewarnt“. „Aber“, so schließt der Text auf dem Programmzettel, „Joachim Ringelnatz gebraucht solche Freiheit mit dem Rechte und mit der Weisheit eines echten Dichters, und wer an seinen phantastischen Vorträgen den Humor, die Satyre und tiefe Philosophie zu erkennen versteht, der wird echte, ungewöhnliche Kunst finden.“ Fotos: Joachim-Ringelnatz-Museum / Archiv


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