
Vom Ort der Trauer zur
Der Wandel von Friedhöfen in der Stadt
Zwei junge Frauen sitzen neben ihren
Kinderwagen auf einer Decke auf dem
Boden, die Kinder spielen friedlich in der
Sonne. Wenige Meter entfernt liegen
einige Studenten im Gras und studieren
ihre Fachbücher – eine im Sommer alltägliche
Szene auf dem alten Friedhof in
Gießen, einer mittelhessischen Universitätsstadt.
Dort, wo seit dem 16. Jahrhundert
nahezu 30.000 Menschen ihre letzte
Ruhe gefunden haben, hat sich seit der
Eröffnung des neuen Friedhofes im Jahre
1903 eine öffentliche Parkanlage entwickelt,
auf der Bestattungen heute nur
noch in Ausnahmefällen vorgenommen
werden.
Eingebettet in einen Mix aus Wiesen, Bäumen
und Sträuchern sind zahlreiche Persönlichkeiten
zur letzten Ruhe gebettet, die
im Zusammenhang mit der Entwicklung der
Stadt und Universität Gießen stehen. Die
bekannteste Grabstätte ist die des ersten
Physik-Nobelpreisträgers Wilhelm Conrad
Röntgen (1845 –1923), der durch die Entdeckung
der X-Strahlen Weltruf erlangte und
seine erste ordentliche Professur an der
Universität Gießen hatte. Dass sich heute
vielfach Studenten seiner alten Universität
nahe seines Grabes durch trockenen
Lehrstoff arbeiten und dort somit vielleicht
der Grundstein für bahnbrechende Entdeckungen
oder Erfi ndungen gelegt wird,
veranschaulicht den Kreislauf des Lebens
auf eine besondere Art und Weise. Der ehemalige
Ort der Trauer und Stille ist zu einer
Oase der Erholung und Ruhe
geworden, an dem Menschen
der Hektik des Alltages
entfl iehen und in einer
besonderen, fast poetischen
Stimmung Trost und Kraft
schöpfen. Und so können die
Menschen, deren Ableben
vor vielen Jahren betrauert
und beweint wurde, heute
noch indirekt das Leben anderer
positiv beeinfl ussen.
Bundesweit haben sich alte Friedhöfe in den
letzten Jahrzehnten zu sozialen Orten entwickelt,
nicht immer jedoch ohne Kritik. Denn
gerade zu Zeiten der Corona-Pandemie mit
Kontaktbeschränkungen und der zeitweisen
Schließung von Freizeiteinrichtungen haben
viele Menschen speziell in größeren Städten
die Friedhöfe als Erholungsoase für sich
entdeckt. Ein schmaler Grat ist es zwischen
der ruhigen, nahezu andachtsvollen Nutzung
und einer pietätlosen Störung der Totenruhe.
Auch hier verhält es
sich wie überall, wo
Menschen zusammentreffen:
Mit Respekt
für die Toten
und dem Bewusstsein,
den Ort mit
anderen zu teilen,
kann der Friedhof
auch als Freizeitort
seine Berechtigung
haben.
Vom Gottesacker zur Parkanlage:
Der Alte Friedhof in Gießen
Ruheoase
Das Grab des Nobelpreisträgers Wilhelm Conrad Röntgen