
Bittersüße
Liebesbeziehung
zum Sensenmann
Parallelwelt Wiener Zentralfriedhof:
Radfahrer, Würstelstand und 330.000 Grabstellen
Jeder Kulturkreis hat seine eigenen
Rituale und Bräuche, wenn
es darum geht, sich von einem
Menschen zu verabschieden. Die
Deutschen gehen still und zurückgezogen
mit dem Tod um, sie trauern
tendenziell eher privat, wie es
heißt. Das ist bei unseren Nachbarn
in Österreich anders – genauer
gesagt in Wien. In der Landeshauptstadt
hatte man schon immer
ein ganz besonderes Verhältnis
zum Sensenmann. Wien und der
Tod – das ist eine ewige Liebe
zwischen sentimental-melancholischer
Koketterie und nahezu inniger
Intimität gewürzt mit einer
Prise tiefschwarzen Humors.
Böse Zungen behaupten, dass die
Todessehnsucht in Wien Heimatrecht
hat. Beim Heurigen kippt die
sprichwörtliche Wiener Gemütlichkeit
gern in eine abgrundtiefe Tod-
Traurigkeit, der Zentralfriedhof ist
eines der größten Naherholungsgebiete
der Stadt und die sterblichen
Überreste der Angehörigen
des Kaiserhauses ruhen in Grüften,
in denen ein eleganter Hauch von
Ewigkeit weht. Und eine „schöne
Leich“ nennt der Wiener ein repräsentatives
Begräbnis mit großer
Trauergemeinde. Die schönsten Leichen
und Särge kann man übrigens
in der Kaisergruft im 1. Stadtbezirk
bewundern. Die bittersüße Liebesbeziehung
zu Gevatter Tod geht soweit,
dass Kabarettist und Chansonnier
Georg Kreisler, ein Meister des
schwarzen Humors, in seinem Lied
behauptet: „Der Tod muss ein Wiener
sein“.
Dass der Tod nicht nur zum Leben
gehört, sondern geradezu vom Leben
eingeholt wird, wird wohl nirgends
so sichtbar wie am Wiener
Zentralfriedhof. Er zählt mit einer
Fläche von fast zweieinhalb Quadratkilometern
und rund 330.000
Grabstellen mit etwa drei Millionen
Verstorbenen zu den größten
Friedhofsanlagen Europas. Dachse,
Wildhasen, Igel, selbst Turmfalken,
Eulen und sogar Rehe tummeln sich
zwischen den Gräbern von Beethoven,
Brahms, Schubert, Falco, Bruno
Kreisky, Hugo von Hofmannthal,
Egon Schiele und vielen anderen
Berühmtheiten. Stadtbewohner
nützen ihn gerne für einen Familienausflug
oder einen Spaziergang,
laben sich vor den Friedhofstoren
an Maroni- (Kastanien) und Würstelständen.
Dazu drehen Jogger
ihre Runden, Radfahrer und Inline-
Skater rollen die langen schattigen
Straßen hinunter. Fiakerfahrten mit
Touristen aus aller Welt runden das
bunte Treiben ab.
Als Friedhofszubringer gilt der 71er.
Wenn es etwas gibt, das die Wiener
Straßenbahnlinie 71 von den anderen
Straßenbahnlinien unterscheidet,
dann wohl die Tatsache, dass
man mit dem 71er auch dann fahren
kann, wenn man tot ist. Für den geübten
Wiener nämlich
ist der Satz „Er
ist tot“ viel zu fad,
stattdessen wird
der Verlust mit „Er
ist mit dem 71er gefahren“
beschrieben.
Denn der Straßenbahnzug
mit
der Nummer 71er
tuckert tatsächlich
an vier Toren des
Z e n t r a l f r i e d h o f s
vorbei. (red)
Fotos: red