
Vereine und Verbände
Hemmoor Magazin 02/2020 17
Haus geschah. Dabei liefen wir einem Soldaten in die Arme,
der uns wider Erwarten nicht ausschimpfte, sondern uns mit
einem großen Stück Schokolade und einer Hand voll bunter,
saurer Bonbons hoch beglückte. Mit großem Erstaunen sahen
wir, dass mehrere Soldaten ihre Betten auf dem großen
Balkon aufgeschlagen hatten und offensichtlich dort übernachteten.
Meine ältere Schwester Erika erkrankte plötzlich
mit heftigen Leibschmerzen und sehr hohem Fieber. Unser
Hausarzt diagnostizierte eine akute Blinddarmentzündung,
die sofort in einer Klinik operativ versorgt werden müsste.
Aber wie und wo? Meine Eltern waren außer sich vor Sorge.
Dank ihrer Englischkenntnisse gelang es meiner Mutter, zum
höchsten Offizier vorgelassen zu werden und ihn um Hilfe zu
bitten. Meine Schwester wurde auf einem englischen Sanitätswagen
nach Stade ins Krankenhaus gefahren. Meine Eltern
blieben etliche Tage ohne Nachricht und befürchteten
das Schlimmste. Nach etwa 3 Wochen durften wir in unser
Haus zurück, in ein absolutes Chaos. Aber im Endeffekt hatten
die Engländer nur ein paar Kleinigkeiten und die kleine
Brücke aus der Diele mitgenommen. Nach mehreren Wochen
kam dann auch meine Schwester genesen zurück.
Meine Erinnerungen an diese Zeit sind durchaus positiv und
keineswegs trübe und belastend.
Werner Koch, Warstade, tauschte Eier gegen Süßigkeiten
Ich habe das Schlachterhandwerk gelernt, weil mein Vater
Hans die Schlachterei Beck an der Lamstedter Straße (heute
am Bahnhofsweg) von seinem Schwiegervater übernommen
hatte. Im Krieg war mein Vater Soldat; als „Ersatz“ hatte man
uns einen französischen Kriegsgefangenen zugeteilt, der
vom Fach war und jeden Arbeitstag von dem Kriegsgefangenenlager
in Osten zu uns in den Betrieb kam.
An der Lamstedter Straße Nr. 3 im Hause Witt war die Ortskommandantur
der Wehrmacht untergebracht. Als die deutschen
Truppen sich zurückgezogen hatten und die Engländer
hier einmarschiert waren, richteten diese dort ihren örtlichen
Befehlsstand ein. Das war direkt bei uns gegenüber,
wodurch wir Kinder häufiger Kontakte mit ihnen hatten. Obwohl
die Soldaten sicherlich ausreichend versorgt waren und
im Gegensatz zu uns nicht unter Nahrungsmangel litten, kamen
sie regelmäßig zu uns herüber, um Eier zu tauschen. Wir
hatten nämlich auch einen Hühnerstall. An anderen Lebensmitteln
aus der Schlachterei zeigten sie kein Interesse. Ich
denke mir, dass das mit der Angst der Besatzer zu tun hatte,
von den Deutschen vergiftet zu werden. Eier kann man nicht
vergiften. Auf diese Weise kamen wir Kinder ab und zu in den
Genuss von Süßigkeiten. Einmal tauschte einer der fremden
Soldaten Eier gegen einen Spaten, den ich heute noch habe.
Am Basbeck-Ostener Bahnhof waren eine Zeitlang britische
Panzer aufgefahren. Als diese dann verschwunden waren
und die Schwarzmarktzeit sich entwickelte, kamen die
Hamsterzüge aus Hamburg auch hierher. Hatten die Großstädter
etwas ergattert und kamen abends zum Bahnhof zurück,
wurden sie dort nicht selten vom Ortspolizisten Erich
Vollheide erwartet, der sie filzte und ihnen ihre - natürlich
illegal erworbenen - Schätze, also z.B. Fleisch- oder Wurstwaren
und Speckseiten, wieder abnahm. Diese brachte er dann
zur Schlachterei Beck, wo sie wieder verhökert oder gegen
Lebensmittelmarken abgegeben wurden. Vollheide, das vermute
ich, bekam eine Provision in Form von Naturalien.
Johann-Albert Jantzen, damals Alt-Hemmoor: Innerhalb
von 1 ½ Stunden musste seine Familie ihr Haus verlassen
Mit meinen Eltern und Geschwistern lebte ich bei Kriegsende
im heutigen Alt-Hemmoor in einem Wohnhaus an der
Bundesstraße gegenüber
der Portland-Zementfabrik.
1945 war ich sieben Jahr alt.
Am 7. Mai, meine Schwester
Margot hatte an dem Tag
Geburtstag und es gab eine
Buttercremetorte, erlebten
wir den Vorbeimarsch englischer
Truppen mit Panzern,
Lastwagen und Feldjägern.
Sie marschierten in Richtung
Cuxhaven. Deutsche durften
dabei nicht an der Straße
stehen, aber wir riskierten
einen Blick aus den Fenstern
hinter den Gardinen. Nur den ausländischen Zwangsarbeitern
der Zementfabrik war es erlaubt. Sie klatschten vor Begeisterung
Beifall.
Am nächsten Tag, dem 8. Mai, fuhren bei uns Feldjäger vor.
Sie teilten uns unmissverständlich mit, dass wir innerhalb
1 ½ Stunden das Haus zu verlassen hätten. Meine gesamte
Familie zog daraufhin einige Häuser weiter zu Familie Beyer.
Erst nach einigen Monaten konnten wir in unser Haus zurückkehren.
Unter dem Fahrradschuppen auf dem Gelände der Zementfabrik
befand sich ein tunnelartiger Luftschutzbunker. Am
Ende war ein Notausgang, abgegrenzt mit Bohlen, eingerichtet
worden. Durch die Schlitze hatte man einen Blick auf die
Kreidekuhle. In diesem Bunker war ein Magazin für Essensartikel
eingerichtet worden. Hier haben meine Eltern Butter
(die war in einem Weckglas), Öl, Mehl, Zucker und anderes für
die Familie abholen können. Die Zuteilung erfolgte pro Kopf
der Familien.
Weiter kann ich mich daran erinnern, dass die Engländer den
„Fabrikenhof“ an der Hemmer Straße beschlagnahmt hatten.
Sie benutzten das Gebäude, die Garagen und das Gelände als
Werkstatt für ihre Panzer, Lastwagen und Jeeps. Als Kind bin
ich da viel gewesen, habe dort mit anderen Jungs gespielt,
obwohl es verboten war. Es war ja alles hoch interessant da.
Ecke Lamstedter Straße – Bahnhofsweg: im Hintergrund Wohnhaus
und Schlachterei Beck-Koch, vorn das Haus Witt, in dem die Engländer
ihre Ortskommandantur einrichteten (Foto 50er Jahre)
Das Elternhaus von Johann-Albert Jantzen