
Hey Nordsee
22. Juli 2021 Seite 3
SHANTYS
LIEDER VON SEEFAHRT
UND SEHNSUCHT
Shantys waren die Arbeitslieder
zur Zeit der Großsegler. Man
sang sie zur Unterstützung und
Koordination von seemänischen
Arbeiten, die nur mit gemeinsamer
Kraftanstrengung vollbracht
werden konnten. Dazu gehörte
Anker hieven, Segel setzen, Segel
und Netze einholen, Taue durchholen,
Aufziehen der Rahen, die
Arbeit an Winden und Pumpen,
aber auch das Be- und Entladen.
MIT SEEFAHRTS-ROMANTIK HATTEN
SHANTYS NUR WENIG ZU TUN
Da Großbritannien zur Blütezeit
der Shantys im 19. Jahrhundert die
weltweit führende Seefahrernation
war, sind viele der heute überlieferten
Shantys in englischer Sprache.
Meist war es allerdings kein reines
Englisch, denn die Besatzungen
stammten oft aus unterschiedlichen
Ländern. Eher war es ein Sprachgemisch,
sogenanntes Pidgin-Englisch,
unfein und oft schräg. Aber das
störte damals niemanden, denn nicht
schönes Singen stand im Vordergrund,
sondern die Arbeit.
Mitte des 16. bis zu Beginn des 19.
Jahrhunderts verschwanden viele
Shantys wieder aus dem Bordleben.
Grund dafür war die Zwangsrekrutierung
vieler britischer Seeleute in
die Royal Navy. Shantys waren dort
verboten, denn Kommandos auf den
Kriegsschiffen wurden durch Pfeifen
weitergegeben und die konnten im
lauten Gesang untergehen.
Mit den heutigen „salonfähigen“
Shantys haben die echten von früher
nicht viel zu tun: Auf die in Form eines
Wechselgesangs laut gegen Wind
und Wetter herausgebrüllten Befehle
des Vorsängers, den man Shantyman
nannte, antworteten die Matrosen mit
ihrem Gesang, der mit einem „Haul“
(wie im Deutschen „Hau-ruck“)
und dem Zug am Tau endete. Auch
Begleitung durch Instrumente gab es
nicht, denn jede Hand wurde für die
Arbeit gebraucht. Lediglich bei ruhigeren
Arbeiten oder in der abendlichen
Freizeit wurden gelegentlich
Mundharmonika, Fiedel oder Banjo
hervorgeholt.
Viele Shantys entstanden durch
Übernahme von Volksliedern der
afro-amerikanischen und karibischen
Hafenarbeiter, die beim Beladen der
Schiffe in den Südstaaten der USA
eingesetzt waren. Aber auch die
schottischen und nordeuropäischen
Walfänger- und Fischfangflotten
nahmen großen Einfluss auf die
Entwicklung der Shantys, genauso
wie die Besatzungen der Kauffahrer
auf den Fernrouten nach Übersee.
Auch die Lieder aus den jeweils
besuchten Ländern bzw. Herkunftsländern
der Matrosen spielten eine
Rolle, denn man kannte keine Scheu
bei der Übernahme fremder Melodien.
Gesungen wurde, was gefiel,
die Texte wurden einfach verändert
oder angepasst. Selbst Kinderlieder
wurden adaptiert.
Der ursprüngliche praktische Zweck
des Shanty als Arbeitslied stand bei
den Seeleuten aber immer an erster
Stelle. Es war allein wichtig, dass das
Shanty die Arbeit unterstützte. Der
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Shantyman konzentrierte sich darauf,
den Arbeitstakt zu bestimmen und
die Matrosen mit seinen improvisierten
Texten anzuspornen und bei
Laune zu halten. Mit Beginn der
industriellen Revolution verdrängten
die aufkommenden Dampfschiffe
viele Frachtsegler auf den Routen
nach Ostasien und Australien.
Dadurch verloren die Shantys nach
und nach ihren praktischen Nutzen
für die Seefahrt und wurden nur
noch in der Freizeit und zur Unterhaltung
gesungen.
DER HEUTE GELÄUFIGE NAME SHANTY (ENGLISCH SEA SHANTY)
TAUCHTE MITTE DES 19. JAHRHUNDERTS AUF. ER WURDE VOM
ENGLISCHEN CHANT = SINGEN/GESANG, DEM FRANZÖSISCHEN
CHANTER = SINGEN UND VON CHATTET ABGELEITET, DEM
WORT, DAS DIE FRANZÖSISCH SPRECHENDEN SCHWARZEN
SCHAUERLEUTE VON NEW ORLEANS BENUTZTEN.
Abb. (2): AdobeStock
Navigare necesse est – Seefahrt
war riskant und kräftezehrend.
Das Singen von Shantys machte
die Arbeit erträglicher.
Segel setzen – war Handarbeit.
Shantys machten es leichter...
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