
Zum letzten Mal
ein bunter Strauß
George Bernard Shaw war ein
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Spötter und zeitlebens ein
scharfzüngiger Kritiker. 92-jährig
schickte er einen „Nachruf
auf mich selbst“ an die Schriftleitung der
„Times“, weil er sich „nicht übers Grab
hinaus über die Unfähigkeit der heutigen
Journalistengeneration grün ärgern“ wollte.
Und so findet sich denn in seinem Nachruf
der ebenso aufschlussreiche wie für den
großen irischen Dichter bezeichnende Satz:
„Es ist nicht wahr, daß er der bedeutendste
Schriftsteller seiner Generation war; es
ist aber ebenso wenig wahr, daß irgend ein
anderer zeitgenössischer Autor an ihn heranreichte.“
„Unterm Strich“, wie man es damals zu
bezeichnen pflegte, sind die Passagen
aus Shaws „Nachruf auf mich selbst“ im
Programmheft zu seinem Theaterstück
„Candida“, dem Mysterium in drei Akten,
zu entdecken. Es war die letzte Inszenierung
der allerletzten Spielzeit des Ensembletheaters
in Cuxhaven. Gespielt wurde
noch bis zum Juli 1972. Am 30. war die
letzte Vorstellung. Inszeniert hatte Alexander
Herzog das von Annemarie und
Heinrich Böll ins Deutsche übersetzte
Shaw‘sche Mysterium über die Ehe. Anne
Rosch verkörperte damals die Candida,
Horst Ulbricht ihren Ehemann, den Pastor
Jakob Morell und Karlheinz Lemken den
jungen Dichter Eugen Marchbanks.
Warum man ausgerechnet mit Shaws
„Candida“ den Schlusspunkt setzte, ist
heute, ein halbes Jahrhundert später, nicht
mehr so ganz nachvollziehbar. Grund für
eine genauere Spurensuche in den Theaterarchivalien
jener Zeit. Ein Blick ins Programmheft
zu „Candida“, das Heft 9 der
Spielzeit 1971/72, zeigt jedenfalls, dass der
für Redaktion und Gestaltung zuständige
Dramaturg Winfried Rohloff dem Theaterpublikum
noch einiges zum endgültigen
„Aus“ des Ensembletheaters mit auf den
Weg geben wollte. Und zwar auf Dauer –
damit sich jeder das hinter den Spiegel
stecken konnte.
Unter der Überschrift „Operation gelungen
– Patient tot“ finden sich, beginnend mit
dem Jahr 1900, sowohl Daten zu Cuxhavens
Theatergeschichte als auch Schlaglichter
zum 1971 einsetzenden Kampf um
das Ensembletheater. Fotos vom legendären
Hearing im Stadttheater mit dem
Deutschen Bühnenverein und der Bühnengenossenschaft,
zu dem der Intendant
und die Stadtoberen nicht erschienen,
und vom Zug der Schauspieler, Theaterangestellten,
Jusos und 230 Schülern mit
einem Sarg vors Rathaus illustrieren noch
einmal etwas von den unterschiedlichsten
Kraftanstrengungen um den Erhalt des
Theaters. Letztlich war alles umsonst.
Der Ratsbeschluss vom 23. Oktober 1971
zur Auflösung des Stadttheater-Ensembles
zum Ende der Spielzeit 1971/72 „stand“.
Trotz Theaterpreis-Auszeichnung für die
Inszenierung von Martin Sperrs „Jagdszenen
aus Niederbayern“ (Regie: Alexander
Herzog) und die Uraufführung des Jugendstücks
„Ausgeflippt“ von Joachim Jomeyer,
inszeniert von Gastregisseur Peter
Schlapp. Die kurzen Passagen aus George
Bernard Shaws hintersinnigem „Nachruf
auf mich selbst“ hatten also durchaus ihre
Berechtigung in diesem allerletzten Programmheft
des Stadttheater-Ensembles.
Mit einer Inszenierung von Rolf Hochhuths
„Hebamme“ des Ernst-Deutsch-Theater
aus Hamburg sollte wenig später – am
8. Oktober 1972 – der Gastspielbetrieb am
Cuxhavener Stadttheater beginnen.
Reduziert man die letzte Spielzeit des Ensembletheaters
auf die neun Programmhefte,
so bilden die schmalen hochformatigen,
unterschiedlich farbigen Ausgaben
einen bunten Strauß. Und ein bunter
Strauß ist auch das, was die Spielzeit ihren
Besuchern und Besucherinnen bietet. Die
Leute vom Theater scheinen noch ein letztes
Mal zeigen zu wollen, was am Theater,
auch an einem so kleinen und ständig von
den Finanzen gedrückten „Provinztheater“
alles möglich ist. Und das ist eine ganze
Menge. Es gibt Klassisches, Modernes
und ganz Neues, noch nie Aufgeführtes.
Es gibt Komödiantisches und Tragisches,
Schweres und Leichtes, Politisches und
Spannendes. Mit Stücken wie dem „Tango“
des Polen Slawomir Mrozek und den
„Jagdszenen aus Niederbayern“ von Martin
Sperr unterstreicht die Cuxhavener Bühne
ihren Anspruch auf politisch-kritisches
Gegenwartstheater. Und stellt zugleich
die Frage in den Raum, ob das auf einem
künftigen Bespielungstheater-Spielplan
zu finden sein wird. Denn so wusste man
auch schon damals nur zu gut: Gastspieltheater
müssen vor allem rechnen und
können, nicht auf irgendwelche Experimente
setzen.
Von dem damals für die „Neue Cuxhavener Zeitung“ fotografierenden Konrad Nonnast
stammt dieses Szenefoto aus der Inszenierung „Einladung ins Schloß“.