"Vom Ankommen zum Dazugehören": Zehn Jahre nach der Flucht ins Camp Otterndorf
Aus dem syrischen Damaskus vor dem Krieg geflüchtet: Vor zehn Jahren kam Hadil AbuQasem als 25-Jährige ins Flüchtlingscamp nach Otterndorf-Müggendorf - und schildert ihre Eindrücke.
Es war ein kühler Septembertag im Jahr 2015, als unsere Füße zum ersten Mal deutschen Boden berührten. Wir waren erschöpft, entwurzelt, und doch trugen wir ein einziges, brennendes Verlangen in uns: in Sicherheit leben zu dürfen. Wir flohen nicht, weil wir ein neues Leben suchten. Wir flohen, um das alte zu retten. Um unsere Zukunft vor Krieg, Zerstörung und Tod zu schützen.
Und plötzlich standen wir da in einem Land, das uns fremd war. Die Straßen still, der Himmel grau, die Sprache unverständlich. Doch das, was uns wirklich überwältigte, war nicht die Fremdheit, sondern die Menschlichkeit. Menschen, die uns nicht nur Brote und Decken gaben, sondern uns ansahen, als wären wir mehr als Geflüchtete als wären wir Menschen mit Würde, Hoffnung und einer Zukunft. Sie öffneten ihre Herzen, lange bevor wir ihre Sprache öffnen konnten.
"Integration ist kein Geschenk"
Doch Integration ist kein Geschenk. Sie ist kein einfacher Weg, sondern ein täglicher Kampf oft unsichtbar, oft ohne Applaus. Sprache lernen hieß nicht nur Vokabeln pauken, sondern Fehler ertragen, Scham überwinden, immer wieder neu beginnen. Es hieß, Geduld mit sich selbst zu haben, wenn man innerlich längst verzweifelt war.
Schon in den Zelten begannen wir, Verantwortung zu übernehmen. Wir übersetzten für andere, die noch verlorener waren als wir, mein Mann und ich fanden bald erste Arbeit als Übersetzer. Sprache wurde unser Schlüssel - und doch blieb jede Tür, die wir öffneten, eine Prüfung.

Die Jahre danach waren hart. Wir begegneten Zweifeln, Vorurteilen, Ablehnung. Doch wir lernten: Vertrauen wird einem nicht geschenkt, man muss es Tag für Tag erarbeiten. Also taten wir genau das. Wir fielen, wir standen auf, wir kämpften. Oft fühlte es sich an, als hätten wir Jahre verloren. Aber wir kämpften nicht nur für uns, sondern für unsere Kinder, damit sie frei von Angst aufwachsen können, damit ihr Leben nicht von Grenzen bestimmt wird, sondern von Möglichkeiten.
Heute sind wir nicht mehr nur Lernende. Wir geben weiter. Mein Mann unterrichtet Englisch, Werte und Normen, ich selbst arbeite als Integrationsbeauftragte in der Samtgemeinde Börde Lamstedt. Wir lehren Sprache, wir bauen Brücken, wir helfen anderen, ihren Platz zu finden, weil wir wissen, wie schwer die ersten Schritte sind.
Vor einiger Zeit nahmen wir die deutsche Staatsbürgerschaft an. Nicht als Abschied von Syrien, sondern als Bekenntnis zu einem Leben in Freiheit und Verantwortung. Zum ersten Mal in unserem Leben spüren wir echte Zugehörigkeit nicht mehr das Warten, nicht mehr der Schwebezustand, sondern ein Zuhause.

Syrien bleibt in uns: die Erde unserer Kindheit, die Stimmen unserer Träume. Aber zurück können wir nicht. Unsere Kinder sind hier geboren. Sie sind Deutsche. Und wir wollen ihnen nicht ein neues Leben im Dazwischen zumuten.
Integration bedeutet, Brücken zu schlagen zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Schmerz und Hoffnung. Sie gelingt nur, wenn beide Seiten die Hand ausstrecken, wenn Offenheit auf Offenheit trifft.
Heute, nach zehn Jahren, sagen wir: Deutschland ist nicht nur das Land, in dem wir leben. Es ist das Land, in dem wir geliebt, gehofft, gearbeitet, gelitten und schließlich Wurzeln geschlagen haben. Nicht durch Zufall, sondern durch Mut, Einsatz und den tiefen Willen, Teil dieser Gesellschaft zu sein.
Land Hadeln ist unser Zuhause. Hier haben unsere Kinder laufen gelernt, hier gehen sie zur Schule, hier sind sie Freunde geworden. Hier sind wir nicht mehr Gäste. Wir sind Nachbarn, Kollegen und Freunde.
"Wir kamen als Fremde und fanden ein Zuhause"
Nach zehn Jahren schauen wir zurück, nicht mit Bitterkeit, sondern mit tiefer Dankbarkeit. Für die Chancen, die uns gegeben wurden. Für das Vertrauen, das wir uns erarbeiten durften. Für eine Heimat, die uns nicht nur Schutz gab, sondern Zugehörigkeit. Wir kamen als Fremde und fanden ein Zuhause.
Von Hadil AbuQasem