Die kritische Versorgungssituation für Kinder und Jugendliche mit psychotherapeutischem Bedarf ist nicht neu. Aber die Lage droht sich weiter zu verschlechtern, äußert sich der Leiter  Anas Nashef des Autismuszentrums. Foto: dpa
Die kritische Versorgungssituation für Kinder und Jugendliche mit psychotherapeutischem Bedarf ist nicht neu. Aber die Lage droht sich weiter zu verschlechtern, äußert sich der Leiter Anas Nashef des Autismuszentrums. Foto: dpa
Kinder- und Jugendpsychiatrie

Psychiatrie schließt: Erhebliche Belastungen für Familien im Kreis Cuxhaven erwartet

von Bengta Brettschneider | 18.10.2024

Nach 20 Jahren muss die Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bremerhaven schließen. Auch viele Kinder und Jugendliche aus dem Landkreis Cuxhaven waren dort Patienten. Welche Auswirkungen hat die Schließung für den Kreis Cuxhaven?

Bereits seit März 2023 herrschte in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis in Bremerhaven aus Kapazitätsgründen ein Aufnahmestopp für Patienten aus dem Landkreis Cuxhaven. Die Versorgung dieser Patienten wurde zum Großteil auch durch das MVZ des Wichernstift in Geestland-Debstedt durch Dr. Johanna Katharina Reichel aufgefangen. Doch auch diese wird zum Ende des Jahres schließen, sagt Dr. Charlotte Jacobi.

Monatelange Wartezeiten

Zu Zeiten der Gemeinschaftspraxis versorgte sie mehr als 800 Patienten im Quartal. Zuletzt waren es rund 450 Patienten. 50 Prozent kämen aus der Stadt Bremerhaven und rund 50 Prozent aus den umliegenden Landkreisen. Monatelange Wartezeiten bis zum Ersttermin seien die Regel, führt Jacobi weiter aus. Es gebe auch viele Kinder und Jugendliche mit einer Indikation für eine psychotherapeutische Behandlung, hier würden die Wartezeiten bei den selbstständig arbeitenden Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in der Regel bei Terminen am Nachmittag bei neun Monaten liegen. Vormittags geht es teilweise schneller, so Jacobi.

Für Eltern sei es schwierig, dies zu bewältigen, und auch die Maßnahmen der Jugendhilfe seien nur im begrenzten Umfang möglich.

Lange Reise und begrenzte Kapazitäten

Patienten aus dem Landkreis müssen zukünftig eine lange Reise auf sich nehmen. Im MVZ Timmermann arbeiten aktuell nur zwei Kinder- und Jugendpsychiaterinnen in Teilzeit.  Die nächste Institutsambulanz ist in Bremen Nord oder Oldenburg. Aber auch an diesen Orten ist die Jugendhilfe begrenzt und die Zahlen der Kinder- und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen gestiegen. Patienten, die keinen medikamentösen Bedarf haben, können sich auch an die Erziehungsberatungsstelle wenden, aber auch diese können nur eine geringe Anzahl bewältigen, gibt Jacobi zu bedenken.

Versorgungsdruck wird ansteigen

Lisa Kehler hat seit 2019 eine Praxis für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in Cuxhaven. Selbst die Plätze auf ihrer Warteliste sind voll besetzt. Sie sitzt außerdem auch im Jugendhilfeausschuss in Bremerhaven und äußerte sich dort bezüglich der besorgniserregenden Situationen in der Stadt und im Landkreis und eines möglichen Versorgungsnotstandes.

Auch Matthias Walle, Geschäftsführer vom Zentrum für Sozialpsychiatrie und Nervenheilkunde am Ostebogen Hemmoor, hat von der Schließung der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis in Bremerhaven bereits gehört.  "Dies wird eine sehr deutliche Einschränkung in der Versorgung, auch für den Landkreis Cuxhaven, bedeuten." Auch die APP (Ambulant-Psychiatrische-Praxis) verwies vergleichsweise viele junge Patienten dorthin, was jetzt nicht mehr möglich sein wird. Damit wird ein niedrigschwelliges und wenig stigmatisierendes Behandlungsangebot auch für den Landkreis Cuxhaven fehlen und der Versorgungsdruck für die verbleibenden Angebote wird weiter ansteigen, so Walle.

Erhebliche Belastung für Familien

Das Autismus-Zentrum Bremerhaven (ATZ) übernimmt weiterhin die Betreuung autistischer Kinder. Aber auch hier gibt es Versorgungslücken, da viele autistische Kinder noch weitere komorbide psychiatrische Störungen haben. Von Komorbidität ist die Rede, wenn gleichzeitig zwei oder mehrere verschiedene Erkrankungen bei einer Patientin oder einem Patienten vorkommen. Man gehe von rund 70 Prozent aus, führt Anas Nashef, Leiter des Zentrums, aus. In den Zentren Bremerhaven, Cuxhaven, Debstedt und Hagen i. Bremischen werden viele Kinder und Jugendliche betreut, die im Landkreis Cuxhaven wohnhaft sind, sagt Nashef. Infolge der Schließung der Praxis von Dr. Jacobi in Bremerhaven sieht er eine erhebliche Belastung für viele Familien und deren Kinder. Die Situation sei bereits jetzt als kritisch zu bewerten, sodass er sich nicht vorstellen vermag, wie die Entwicklungen nach der Schließung der Praxis aussehen werden. Klienten mit komorbiden Erkrankungen bekämen unterschiedliche Entwicklungsangebote in der Praxis in Bremerhaven. Die Praxis biete Diagnostik sowohl bei Verdacht auf Autismus als auch bei anderen psychischen Störungen an. Wo dies zukünftig stattfinden soll, um weitere Hilfe in die Wege zu leiten, wisse Anas Nashef nicht. In nicht wenigen Situationen würden entsprechende Medikamente verschrieben werden müssen, fährt er fort, die unterschiedliche Symptome bei den Kindern lindern. Wer solle das machen, wenn Fachärzte für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie fehlen?

Mehr Fragen als Antworten

"Obgleich die Schließung der Praxis durchaus überraschend kam, ist die kritische Versorgungssituation nicht neu", fährt Nashef fort. Dies würde man auch an den langen Wartezeiten sehen.

Für ihn stelle sich deshalb die Frage, was die Politik nicht nur für heute, sondern auch für morgen geplant habe, damit nicht nur reagiert werden muss, wenn es beinahe zu spät ist. Nashef stellt Fragen: "Dies gilt übrigens genauso für die kinderärztliche Versorgung sowohl in Bremerhaven als auch im Landkreis. Welche Schritte hat die Politik jetzt unternommen, um eine rasche Lösung für die aktuelle Situation der kinderpsychiatrischen Versorgung zu finden? Welche Pläne hat die Politik, um Fachärzte, medizinische Fachkräfte, Fachkräfte im Gesundheits- und sozialen Bereich zu gewinnen? Warum wird für die Zukunft keine Ausbildungsinfrastruktur in der Region entwickelt, um Fachkräfte aus der Region auszubilden, die uns dann erhalten bleiben? Leider mehr Fragen und weniger Antworten."

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Bengta Brettschneider

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Cuxhavener Nachrichten/Niederelbe-Zeitung

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