"Unsere Grundrechte und unsere parlamentarische Demokratie wurden zu keinen Zeitpunkt außer Kraft gesetzt", sagt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Foto: Deutscher Bundestag/Achim Melde
"Unsere Grundrechte und unsere parlamentarische Demokratie wurden zu keinen Zeitpunkt außer Kraft gesetzt", sagt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Foto: Deutscher Bundestag/Achim Melde
Bundestagspäsident im Interview

Schäuble im CN/NEZ-Interview: "Stolz für mich keine politische Kategorie"

von Maren Reese-Winne | 06.06.2020

CUXHAVEN. Statt Cuxhavner Jugendliche live in Berlin zu treffen, hat Bundestagspäsident Dr. Wolfgang Schäuble ein schriftliches Interview mit dem Amandus-Abendroth-Gymnasium und  unserer Zeitung geführt.

Es war ein intensives politisches Programm, das sich der 10. Jahrgang des Amandus-Abendroth-Gymnasiums (AAG) in Cuxhaven für seine Berlin-Fahrt vorgenommen hatte; mit Besuchen im Bundeskanzleramt, dem Bundesrat und einer Debatte im Bundestag. Geplanter Höhepunkt: ein Gespräch mit dem Bundestagspräsidenten Dr. Wolfgang Schäuble für alle 76 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Corona kam und damit das Ende aller Schulfahrten in diesem Schuljahr. Geschichts- und Politiklehrer Marten Grimke suchte eine Alternative und ersann die Idee für ein schriftliches Interview mit dem Bundestagspräsidenten in Kooperation mit unserer Zeitung. Wolfgang Schäuble, der das nach dem Bundespräsidenten zweithöchste Amt im Staate bekleidet, war einverstanden. Die Fragen stellten Marten Grimke (AAG) und Maren Reese-Winne.

CN/NEZ: Humanismus, Aufklärung, Menschlichkeit und Freiheit - diese Qualitäten werden mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis in Otterndorf gewürdigt, mit dem Sie 2015 ausgezeichnet wurden. In der Corona-Krise scheinen viele Eckpunkte gesellschaftlichen Lebens bedroht. Einerseits waren die Informationsmöglichkeiten noch nie so gut wie heute, andererseits sind Grundrechte in kürzester Zeit temporär ausgesetzt worden. Wie weit dürfen in Ihren Augen Einschränkungen der Grundrechte gehen?

Die Grundrechte waren zu keinem Zeitpunkt ausgesetzt. Sie waren zeitweise empfindlich eingeschränkt, ja! Zum Teil sind sie es noch. Aber alle Maßnahmen, die getroffen wurden, unterlagen immer der Überprüfung durch die Gerichte, und die Regierung wurde vom Parlament kontrolliert. Die noch geltenden Einschränkungen werden fortwährend auf ihre Verhältnismäßigkeit geprüft - von der Bundesregierung, den Landesregierungen und den Parlamenten.

Ich lege Wert darauf: Unsere parlamentarische Demokratie wurde zu keinem Zeitpunkt außer Kraft gesetzt. Der Bundestag war übrigens das erste Parlament in Europa, das unter Einhaltung der geltenden Abstandsregeln über alle staatlichen Maßnahmen ausführlich debattiert und Soforthilfen beschlossen hat. Alles in allem finde ich, dass wir die Situation als Staat und Gesellschaft ganz gut meistern.

Wir lernen allerdings permanent dazu - auch die Wissenschaft. Forschung produziert ja nicht nur eindeutige Fakten, im Gegenteil, ihre Logik beruht auf Zweifel und Widerspruch, auf Lernfähigkeit durch Versuch und Irrtum. Letzte Gewissheit kann auch sie nicht liefern. Als Gesellschaft müssen wir uns schwierigen Abwägungsprozessen stellen, und als Politiker haben wir die Aufgabe, am Ende Entscheidungen zu treffen. Leben zu schützen, kann in einer Pandemie dann heißen, dass die persönliche Freiheit temporär eingeschränkt wird - zum Schutz aller, besonders aber der Schwächeren und der Personen, die besonders gefährdet sind. Gleichzeitig können wir dem Schutz des Lebens auch nicht alles unterordnen. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Ich habe deshalb früh betont, dass es nur einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, und das ist die Würde des Menschen. Die ist unantastbar.

CN/NEZ: Wie besorgt schauen Sie auf Demonstrationen, in denen, zumindest den Fernsehbeiträgen nach zu urteilen, ja nicht nur Lockerungen der Corona-Regeln gefordert werden, sondern sich Wut gegen den Staat - und auch die Medien - Bahn bricht? Woher kommt diese Wut?

Die Freiheit, seine Meinung auch laut zu äußern, gehört zur Demokratie. Die Kundgebungen, die Sie ansprechen, zeigen doch nur, dass wir in einer offenen Gesellschaft leben und dass unser Rechtsstaat funktioniert. Mich beunruhigt das nicht. Im Gegenteil! Demonstrationen sind Teil des Meinungsbildungsprozesses, den wir dringend brauchen - natürlich immer vorausgesetzt, dass Abstände gewahrt bleiben und alles friedlich abläuft. Deswegen rate ich immer zu prüfen, mit wem man es bei einer Versammlung zu tun hat, und wachsam zu sein gegenüber jenen, die unseren Rechtsstaat im Grundsatz beschädigen wollen.

Es ist im Übrigen ein altbekanntes Phänomen: Im Schatten jeder Krise tummeln sich fragwürdige Gestalten, die abstruse Gedanken in die Welt hinausposaunen. Auch "Wutbürger" sind wieder dabei, Menschen, die von einer aggressiven Unzufriedenheit gepackt sind. Wir sollten sie nicht überbewerten, sie sind laut, aber die Minderheit. Dennoch müssen wir aufpassen, dass es nicht zu einer zu starken Polarisierung in der Gesellschaft kommt. Und dass wir die Urteilskraft gerade junger Menschen stärken, damit sie Extremisten und Verschwörungstheoretikern nicht auf den Leim gehen.

CN/NEZ: Auch Werte, die wir als Errungenschaften Europas erlebt haben, waren in kurzer Zeit vom Tisch gewischt, die Grenzen geschlossen; in Ungarn wurde die Krise dazu genutzt, die Macht der Regierung auszubauen. Wie kann der Weg zurück gelingen? Oder ist die EU, wie wir sie kennen, bedroht?

In Krisenzeiten suchen die Menschen Zuflucht im Vertrauten - Familie, Gemeinde, Region, Heimatland. Das ist menschlich. Wenn eine Lawine auf einen zurollt, denkt man nicht in globalen Zusammenhängen. Richtig ist, dass vor allem die Grenzschließungen nicht immer ausreichend koordiniert waren, was gerade in den Grenzregionen zu großen Problemen führte. Wir sind nun dabei, diese Phase zu überwinden. Denn auch für die Bekämpfung des Coronavirus und seiner gravierenden Auswirkungen auf alle Bereiche unseres Lebens gilt, dass wir das allein im nationalen Rahmen nicht schaffen können.

Wichtig ist mir, dass wir erkennen: In Krisen stecken Chancen! Die Europäische Union hat in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass sie große Herausforderungen bewältigen kann. Wenn wir jetzt gemeinsam die Weichen richtig stellen, können wir eine neue Dynamik erzeugen, um die EU wettbewerbs- und zukunftssicher zu machen. Europa kann jetzt innovativer und technologiefreundlicher werden! Nur so werden wir uns mit unseren Werten im globalen Wettbewerb der Systeme behaupten können.

AAG: Die Diskrepanz zwischen Bund und Ländern wird in jüngster Zeit oft beklagt. Frankreich ist ein zentralistisch organisierter Staat - Deutschland eine föderale Republik: Wie bewerten Sie generell die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern?

Für den Föderalismus ist die Pandemie eine Bewährungsprobe, zumal es keine Blaupause für eine solche Ausnahmesituation gibt. Dass nicht alles auf Anhieb glatt läuft, wundert mich nicht - in unserem föderalen System haben wir mit regionalen Entwicklungen, Interessen und nicht zuletzt mit unterschiedlichen Persönlichkeiten in den Landesregierungen zu tun. Der Föderalismus war schon immer mühsam, er verlangt gute Nerven und Geduld. Aber er hat sich bewährt. Viele Staaten beneiden Deutschland sogar darum, dass wir schnell und flexibel auf lokale Entwicklungen reagieren können.

AAG: Seitens der Bundesregierung und der Bundesländer wurden sehr schnell große finanzielle Hilfen zugesagt: Welche zukünftigen Belastungen sehen Sie für unsere Bürgerinnen und Bürger, insbesondere der Steuerzahler im Einzelnen?

Wir sehen uns mit der schwersten Rezession der Nachkriegszeit konfrontiert. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Finanzpolitik. Mit Geld alleine wird die Krise aber nicht zu lösen sein. Der Staat kann nicht für alles aufkommen und die wirtschaftliche Leistung durch gigantische Finanzspritzen einfach ersetzen. Ich habe allerdings die Sorge, dass sich diese Erwartung in der Bevölkerung verfestigt, wenn wir weiter nur über Summen reden, die man ausgeben will. Viel wichtiger ist doch die Debatte über die konkreten Maßnahmen, damit Deutschland und Europa innovativer und dynamischer aus der Krise kommen. Wenn Klarheit darüber herrscht, was dazu vernünftigerweise gemacht werden kann, wird auch die Finanzierung sichergestellt werden.

AAG: Wie erleben Sie die Rechtspopulisten im Deutschen Bundestag und welche demokratiefördernden Maßnahmen sind jetzt erforderlich?

Der Bundestag braucht keine demokratiefördernden Maßnahmen. In dieser Legislaturperiode sind die Debatten lebhafter geworden, weil wir mehr Fraktionen haben, mehr unterschiedliche Positionen. Auch wenn nicht aus jedem Debattenbeitrag gleichermaßen politische Weitsicht spricht: der Streit gehört zur Demokratie. Er ist notwendig, um die besten Lösungen für aktuelle Herausforderungen zu finden. Ich bin im Übrigen nicht sicher, ob unsere parlamentarischen Auseinandersetzungen mit den hitzigen Bundestagsdebatten der 1970er-und 1980er-Jahre mithalten können. Auch damals wurde verbal nicht nur mit dem Florett gefochten.

AAG: Seit "Fridays for Future" interessieren und engagieren sich wieder mehr junge Menschen für Politik: Wie sehen Sie diese Entwicklung, gerade in Bezug auf umweltpolitische Themen?

Ich freue mich darüber, dass junge Menschen sich leidenschaftlich, friedlich und ausdauernd für den Schutz der Umwelt engagieren. Wir haben das zu lange vernachlässigt. Ich erinnere deshalb auch in der Coronakrise immer daran, dass Klimawandel und der Verlust an Artenvielfalt nach wie vor die größte Herausforderung für die Menschheit sind. Deswegen plädiere ich dafür, beim Wiederaufbau unserer Wirtschaft nach dem Lockdown besonderes Gewicht auf die Nachhaltigkeit zu legen und nicht die alten Fehler zu wiederholen, auch nicht die Übertreibungen in der Globalisierung, die mit zum verheerenden Ausmaß der Pandemie beigetragen haben. Mit dem europäischen Green Deal wollen wir unserer Verantwortung im Kampf gegen den Klimawandel und für den Erhalt der biologischen Vielfalt gerecht werden. Die Jugend hat dazu wichtige Impulse gegeben, und ich hoffe, dass sich junge Menschen weiterhin engagieren werden - auch über den Klimaschutz hinaus.

AAG: Sie sind ein Politiker, welcher seit Jahrzehnten unsere Bundesrepublik geprägt hat und weiterhin prägt. Sei es als Chef des Bundeskanzleramtes, Innenminister oder Finanzminister des Bundes und seit dieser Legislaturperiode in der Funktion des Bundestagspräsidenten: Auf welche politische Leistung sind Sie besonders stolz?

Stolz ist für mich keine politische Kategorie. Ich bin dankbar, dass ich in meinem Leben viel gestalten konnte und bei wichtigen Wegmarken in der Geschichte unseres Landes dabei war. Dazu gehört ohne Frage die Wiedervereinigung vor dreißig Jahren. Dass ich dazu einen Beitrag leisten konnte, empfinde ich als persönliches Glück.

CN/NEZ: Cuxhaven gehört dem "Bündnis für die Würde unserer Städte" an; einem Zusammenschluss von Kommunen, der mit dem Hinweis auf gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland auf Bundes-Hilfe bei der Tilgung der Altschulden setzt, die die Städte unverschuldet aufgehäuft haben. Bundesfinanzminister Olaf Scholz will diese Kommunen im Rahmen des Corona-Rettungsschirms entschulden; reiche Bundesländer haben bereits Protest angemeldet. Wie ist Ihre Position dazu?

Als Bundestagspräsident erteile ich meinem Nachfolger keine Ratschläge. Klar ist, dass wir die Kommunen mit den Problemen, die aus der Pandemie resultieren, nicht alleine lassen können. Allerdings müssen wir auch darauf achten, dass Handeln und Haftung zusammenbleiben. Warum sollen wir die Schulden, die in der Vergangenheit gemacht worden sind, vergemeinschaften? Diese Frage ist auf allen Ebenen des Wirtschaftens legitim - in Europa, in den Ländern, in den Kommunen. Wir brauchen auch hier die richtige Balance.

Zur Person:

Wolfgang Schäuble wurde am 18. September 1942 in Freiburg geboren. Er ist evangelisch, verheiratet und hat vier Kinder. Schäuble studierteRechts- und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Freiburg und Hamburg und promovierte 1971 zum Dr. jur.

Seit 1972 ist Schäuble (CDU) Mitglied des Deutschen Bundestages. Ab 1984 war er Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, bevor er von 1989 bis 1991 Bundesminister des Innern wurde; ein Amt, das er erneut von 2005 bis 2009 bekleidete. Anschließend war er bis 2017 Bundesminister der Finanzen. Am 24. Oktober 2017 wurde Schäuble zum Präsidenten des Deutschen Bundestages gewählt. Er handelt sich dabei um das zweithöchste Staatsamt in Deutschland.

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Maren Reese-Winne

Redakteurin
Cuxhavener Nachrichten/Niederelbe-Zeitung

mreese-winne@no-spamcuxonline.de

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