
Cuxhaven: Pianistin fasziniert mit Bachs Goldberg-Variationen im Schloss Ritzebüttel
Ragna Schirmer entführt ihr Publikum im Schloss Ritzebüttel in Cuxhaven mit Bachs "Goldberg-Variationen" in einen Kosmos voller Harmonie und Virtuosität. Eine Sternstunde der Musik, die tief berührt und zugleich fasziniert.
Zumeist ist Skepsis angesagt, wenn allzu schnell von "Sternstunden" die Rede ist. Nicht so jedoch zuletzt im Schloss Ritzebüttel, wo die Pianistin Ragna Schirmer ihrem Konzertpublikum mit Johann Sebastian Bachs "Goldberg-Variationen" eine wahre "Sternstunde" bescherte. Und noch viel mehr als das: ein zutiefst berührendes und zugleich faszinierendes Erlebnis der Musik Bachs.
Ragna Schirmer ist eine außergewöhnliche Pianistin, sie zählt ohne Frage zu den außergewöhnlichen Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit. Außergewöhnlich sind auch ihre Projekte. Sie befassen sich mit Werk und Wirkung der Pianistin Clara Wieck-Schumann, mit der blinden Komponistin und Mozart-Zeitgenossin Maria Theresia Paradis oder wie im spartenübergreifenden Projekt "Volkseigen Ton" mit der DDR-Lyrik zwischen Dissidenz und Anpassung.
Bachs "Goldberg-Variationen" hingegen begleiten Ragna Schirmer, wie sie nun im Schloss einmal mehr betonte, bereits ein Leben lang - seit ihrem 14. Lebensjahr, als sie die Variationen unbedingt spielen wollte. Ihr Blick auf das Werk, so verrät sie zu Beginn des Konzertes, sei immer wieder ein neuer. Angesichts der mittlerweile ungezählten Male, die sie in diesen schier unglaublichen musikalischen Kosmos eingetaucht ist, erhöht das bei den Zuhörern naturgemäß die Spannung auf die Interpretation des Werkes.
Dem Grafen die langen Nächte verkürzt
Dass Johann Sebastian Bachs "Clavier Übung bestehend in einer Aria mit verschiedenen Veränderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen" BWV 988 den Namen "Goldberg-Variationen" trägt, geht bekanntlich zurück auf den Hauspianisten des Grafen von Keyserling mit Namen Johann Theophilus Goldberg. Mit Bachs Variationen verkürzte der dem an Schlaflosigkeit leidenden, kränkelnden Grafen die langen Nächte. Dass dieser Goldberg, ein Schüler Johann Sebastian Bachs, ein geradezu virtuoser Klavierspieler gewesen sein muss, steht außer Frage.
Des Komponisten Zeitgenossen mag damals überrascht haben, dass sich Bach in späten Jahren überhaupt noch an Variationen machte. Eine Spezies, die ihn zeitlebens (mit einer einzigen Ausnahme, der "Aria variata alla maniera italiana") nie sonderlich interessiert hat. Doch was dann im Jahre 1742 als vierter Teil der "Klavierübung" gedruckt vorliegt, sprengt alles bisher Dagewesene. Das Thema des Variationenwerkes: eine reich verzierte Aria im Sarabanden-Rhythmus, wunderbar melodisch. Doch nicht die Melodie ist es, der das Interesse Bachs gehört, sondern den Bass-Partien des Themas. Sie sind gewissermaßen Ausgangspunkt für eine streng formale und zugleich tiefgründige Auseinandersetzung mit einem schier unendlichen Harmonie-Komplex.
Alles, was die Musik Bachs ausmacht
Das Variationenwerk mit seinen 30 Variationen hat alles, was die Musik Bachs ausmacht: kanonische Veränderungen, Kontrapunktik, Charakterstücke, Cantables, Virtuoses und tief Verinnerlichtes. Zu erleben, wie Ragna Schirmer am Steinway-Flügel des Schlosses diesen ganzen Kosmos ausbreitet, ist in der Tat grandios. Mit ihrem unvermindert festen Anschlag konturiert sie die Passagen im Bass nahezu unvergleichlich, zeichnet glasklare Linien, an anderen Stellen des Werkes entstehen unter ihren Händen dann wieder zarte, überaus feine Bilder. Die "Goldberg-Variationen" auf einem Flügel gespielt, verlangen eine andere klaviertechnische Herangehensweise als an einem zweimanualigen Cembalo. Das Konzertpublikum kann da dem schnellen Überkreuzen der Hände, den fast haltbrecherischen Ausgestaltungen einzelner Passagen und der über weite Strecken temporeich-virtuosen Pianistik nur staunend folgen.
Doch würde man alles nur auf pianistische Technik reduzieren, wäre das natürlich entschieden viel zu wenig. Und außerdem: technisch, so hat Ragna Schirmer in einem ihrer Interviews vor Jahren bereits betont, habe sie die "Goldberg-Variationen" schon beherrscht, bevor sie die Größe des Werkes überhaupt habe erfassen können. Nach lebenslanger und immer wieder neuer Beschäftigung mit dem Variationenwerk gestaltete sie es am Sonntag im Schloss nun in seiner ganzen, kaum fassbaren Formen- und Ausdrucksvielfalt. Die absolute Stille, mit der das Publikum zuhörte, mag für den tiefen Eindruck gesprochen haben.
Die Stadtklang-Konzertreihe und ihr künstlerischer Leiter Mathias Christian Kosel dürfen den Nachmittag "Bach im Schloss" mit Ragna Schirmers Interpretation der "Goldberg-Variationen" ohne Frage als Ereignis verbuchen.
Von Ilse Cordes