
O
1964 AM GRENZÜBERGANG BORNHOLMER STRASSE
WEIHNACHTEN AN DER
BERLINER MAUER ODER
ENGEL MIT GEWEHR
DDas Weihnachtsfest in Berlin war
geprägt von der Teilung der Stadt.
Die Mauer war nicht nur ein Riss quer
durch Berlin, sondern auch durch unsere Familie.
Meine Eltern, meine jüngere Schwester
Manuela und ich lebten im Westteil, unsere
Großeltern und unsere Lieblingstante im
Ostteil von Berlin. Da machte sich bei aller
Vorfreude immer auch Traurigkeit breit.
Der erste Weihnachtsfeiertag gehörte Großeltern
und Tante „drüben“. Früh aufstehen,
stundenlanges Warten an der Grenze. Die
„Vopos“ beäugten uns kritisch – oder kam
es uns nur so vor, weil meine Eltern immer
verbotene Dinge dabei hatten? Wurst, Zeitungen
– nach menschlichem Ermessen zwar
alles gut getarnt, aber man wusste ja nie. Der
Trick war, Tüten und Taschen geöffnet dem
Kontrolleur unter die Nase zu halten. Diese
„freiwillige Offenheit“ wurde meistens mit
oberflächlicher Taschenkontrolle belohnt.
Puuuuh – nun konnten wir bald Oma, Opa
und unsere Tante in die Arme schließen und
bei Kerzenlicht, Stollen und Rosinenkuchen
so tun, als gäbe es keine Mauer ... Am Abend
dann das Ganze rückwärts.
Da passierte Weihnachten 1964 am Grenzübergang
Bornholmer Straße die Fast-Katastrophe:
Meine Mutter reichte unsere Ausweise
dem Grenzsoldaten. Der guckte, blätterte
wild in den Ausweisen und schnauzte: „Sie
sind mit nur einem Kind in die DDR eingereist,
also reist jetzt auch nur eines wieder aus!“
Meine Mutter war eine zierliche Frau, aber jetzt
wurde sie – zumindest stimmlich – zur Riesin.
Ich habe ihre Antwort in schönstem Berliner
Dialekt noch heute im Ohr: „Sie, junger Mann,
wir sind mit zwee Mädels anjekommen und
nehmen ooch beede wieder mit zurück – und
wenn ick hier steh’, bis der letzte Schnee
jetaut is’!“ Man rief uns aus der Warteschlange.
Es war fast stockdunkel. Wir standen ohne
Ausweise mitten in der Grenzanlage – und
warteten. Die Angst kroch ganz langsam
überallhin – und die Eiseskälte hinterher. Bald
kämpfte meine Mutter mit den Tränen. Noch
heute höre ich meinen Vater beruhigend auf
sie einreden. Die Eltern hatten Angst, das
bedeutete echte Gefahr. Plötzlich trat ein
junger Grenzsoldat aus dem Wachhäuschen.
Langsam ging er ganz nah an meine Eltern
heran und flüsterte: „Haben Sie keine Angst,
es wird Ihnen nichts passieren, Sie werden
ganz bestimmt beide Kinder wieder mitnehmen.“
Nach einer Ewigkeit winkte man uns heran
und entließ uns mit einem „Frohe Weihnachten
noch“. Als wir im Bus nach Charlottenburg
saßen, sagte meine kleine Schwester:
„Der Mann mit dem Gewehr kam mir vor wie
ein Engel.“ Na ja, „Engel“ war sicher etwas
übertrieben, aber der junge Grenzsoldat
gab dem Ganzen – zumindest für uns – ein
menschlicheres Gesicht und wurde zu unserem
ganz persönlichen Weihnachtsengel.
Von Dagmar Göstel
Das ist mein Vater Klaus Göstel mit meiner
Schwester Manuela, daneben meine Mutter
Waltraud Göstel mit mir. Das muss Weihnachten
1963 oder 1964 gewesen sein.
Unvergessene Weihnachten. Band
14; 31 besinnliche und heitere
Zeitzeugen-Erinnerungen, 192
Seiten mit vielen Abbildungen,
Ortsregister. Zeitgut Verlag, Berlin.
www.zeitgut.com Klappenbroschur
ISBN: 978-3-86614-280-0.
Foto: iStockphoto / © HAKKI
L8 Lichterglanz In Cuxhaven und Land Hadeln