Sie haben den Mut, sich und ihre Lebenswelt als pflegende Angehörige sichtbar zu machen.
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Leben mit Demenz und Co.

Pflegende Angehörige im Cuxhaven: "Wenn wir wegfallen, bricht alles zusammen"

von Wiebke Kramp | 09.10.2025

Pflegende Angehörige in Niedersachsen stehen im Fokus: In einer Selbsthilfegruppe in Hemmoor teilen sie ihre bewegenden Geschichten und den oft unsichtbaren Kampf um Anerkennung und Unterstützung in der Gesellschaft.

Bei der Gruppenarbeit widmen sie sich verschiedenen Fragestellungen, zum Beispiel, was Außenstehende über pflegende Angehörige wissen sollten.
Anna-Lena Fritsche leitet die Selbsthilfegruppe mit viel Empathie. Foto: Kramp

Es ist die erste Woche der pflegenden Angehörigen in Niedersachsen, die noch bis Sonntag, 12. Oktober, geht und den Scheinwerfer auf diejenigen richtet, die sonst eher ein Schattendasein führen. Guter Grund, der Selbsthilfegruppe in Hemmoor einen Besuch abzustatten.

Alle eint ein Schicksal. Sie pflegen zu Hause Angehörige. Mit ihren Problemen fühlen sie sich allein gelassen und von der Gesellschaft unverstanden und nicht gesehen. Die Organisation ihres Alltags ist kraftraubend, oder wie es die betroffene Martina formuliert: "Wenn wir wegfallen, bricht alles zusammen."

Sind viele, aber sichtbar sind sie meist nicht

2023 wurden 85 Prozent aller Pflegebedürftigen in Niedersachsen zu Hause versorgt, insgesamt 529.393 Personen. In Niedersachsen rechnet man auf jede pflegebedürftige Person etwa zwei pflegende Angehörige. Genaue Zahlen gibt es nicht. Von rund 8 Millionen Menschen haben demnach über 1 Million Einwohner eine Pflegeverantwortung - rund 15 Prozent der Bevölkerung. Es sind also viele, aber sichtbar sind sie meist nicht.

Zehn pflegende Frauen aus Hemmoor, Hechthausen, Lamstedt, Oberndorf und Geversdorf trauen sich an diesem Vormittag, aus ihrem Alltag zu berichten. In den meisten Fällen sind es die Ehemänner, die auf ihre Unterstützung angewiesen sind. Aber zwei von den Frauen, die sich in einem Raum im Haus der Pflege in Hemmoor für zwei Stunden treffen, kümmern sich um ihre pflegebedürftigen Mütter. Häusliche Pflege ist offensichtlich immer noch vorwiegend weiblich. Und so erscheinen nur vereinzelt Männer zu diesen Treffen. Anna-Lena Fritsche vom Senioren- und Pflegestützpunkt des Landkreises Cuxhaven ist die professionelle Leiterin dieser Selbsthilfegruppe. In der Gruppe ist man per Du. Kaffee, Cola, Wasser, Keksriegel, Cracker und Äpfel kommen auf den Tisch - ebenso wie die multiple Problemlast, sich kümmern zu müssen und in alleiniger Verantwortung für einen geliebten Menschen zu stehen.

Hildegard kämpft mit den Tränen. Ihr an Demenz erkrankter Mann ist im Heim. Ob er sie erkennt, weiß sie nicht. "Es ist gruselig, ich geb‘ meinen Mann weg, wo er nicht hingehört." Sie kritisiert, wie Demenzkranke in Heimen allein gelassen werden. Ingrid kennt die Situation und die Gefühlswelt ihrer Sitznachbarin. Sie hat ihren dementen Mann jetzt zu Hause. Er war in einem Heim in der Demenzabteilung und sollte in Dauerpflege. Als er einen Demenzschub bekam, wurde er ins Krankenhaus gebracht. "Mein Mann lag nur noch da - die Augen geschlossen, den Mund geöffnet. Im Krankenhaus sagten sie mir: Entweder bringen Sie ihn ins Hospiz oder nehmen ihn mit nach Hause … Seit Anfang Juli ist er nun wieder dort. Das Pflegebett steht im Esszimmer im Erdgeschoss und morgens und abends kommen DRK-Mitarbeiterinnen ins Haus. "Er isst und trinkt - und sein Zustand hat sich seit dem Krankenhaus um 100 Prozent verbessert. Mich erkennt er, unseren Enkel aber nicht mehr." Demenz ist eine tückische Krankheit. Jeden Tag verschwindet der geliebte Mensch ein Stück mehr. Der Verstand verabschiedet sich ebenso wie erlernte Fähigkeiten.

Landwirtin Inge kann ihren dementen Mann nicht mehr allein auf den Hof lassen: "Das Risiko ist viel zu groß, dass ihn dort ein Trecker überfährt."  Er weigere sich, in die Tagespflege zu gehen, und zu Hause will er unbedingt etwas tun. "Jeden Tag hatten wir einen Handwerker, weil er an der Heizung geschraubt hat. Er baut alles auseinander, aber kriegt es dann nicht mehr zusammen." Diese Situationen führten zu Reibereien, bekennt sie freimütig.

Dieses Gefühl ist Susanne nicht fremd. Sie erlebt, dass ihr Mann "ungeduldig und bösartig" reagiere, zu körperlichen Übergriffen sei es aber noch nicht gekommen. "Ich versuche, ihn nicht anzubrüllen", beschreibt sie ihre eigene Ungeduld und beklagt, dass ihm jede Art von Ordnung zuwider sei.

Silke hat ihr bisheriges Leben komplett aufgegeben und ist vor vier Jahren wieder aus Bayern in den Norden gezogen, um sich rund um die Uhr um ihre Mutter zu kümmern. "Ich fühle mich allein gelassen, die Einzige, die mir hilft, ist meine Nichte." Gerne möchte sie mal für zwei Wochen nach Erlangen, wo ihr Mann lebt, "aber ich finde niemanden., der sich um meine Mutter kümmert". Schwierigkeit sei, dass ihre Mutter auf sie fokussiert sei.

Martinas Mann hat Parkinson. Bei den drei Wochen Klinikaufenthalt im Sommer ist die Medikamenteneinstellung schiefgelaufen. Aber das Paar möchte sich von der Krankheit nicht kleinkriegen lassen und gibt nicht auf. Im nächsten Jahr, so Martinas ganz große Hoffnung, möchte sie mit ihrer Trommelgruppe nach Portugal reisen, wenn ihr Mann in der Klinik ist. Als sie diesen Plan verrät, umspielt ein kleines Lächeln der Vorfreude ihre Lippen.

Hilfe, wenn der Druck zu groß ist

Wer will, kann reden und blitzlichtartig Einblick geben. Aber es ist kein Muss. Voller Verständnis, mitfühlend und warmherzig reagiert Annas-Lena Fritsche auf die Schilderungen aus der Gruppe - und bietet proaktiv Einzelgepräche und Hausbesuche an, wenn sie merkt, der Druck, die Last, das Leid werden zu groß und die Kraft droht zu schwinden. Die Teilnehmerinnen stützen sich gegenseitig, den schweren Alltag zu schultern. Ihre Probleme können sie sich hier von der Seele reden. Und sie sehen, dass sie nicht allein sind. Schonungslos offen gehen sie miteinander um, kommunizieren ehrlich ihre Ängste, Sorgen und Wünsche. Es ist ein geschützter Raum, in dem sie einmal im Monat zusammenkommen. Anna-Lena Fritsche schafft ganz bewusst eine angenehme Atmosphäre, damit die Teilnehmerinnen es in diesen zwei Stunden schön haben und sie sich um sich und ihre Belange kümmern können.

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Wiebke Kramp

Redakteurin
Cuxhavener Nachrichten/Niederelbe-Zeitung

wkramp@no-spamcuxonline.de

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