Über Nacht wurde aus dem Otterndorfer Sommercamp eine Zuflucht für Gefüchtete - und ziemlich schnell stellte sich dort ein Stück Normalität ein.
Über Nacht wurde aus dem Otterndorfer Sommercamp eine Zuflucht für Gefüchtete - und ziemlich schnell stellte sich dort ein Stück Normalität ein.
Mit vielen Fotos

Als Otterndorf über Nacht zum Flüchtlingscamp wurde

31.08.2025

Erinnerungen werden wach. Vor zehn Jahren verwandelte sich das Sommerlager in Otterndorf über Nacht in ein Flüchtlingscamp. Heute sind Hadil AbuQasem und Amer Mawed fester Bestandteil der Gesellschaft und erzählen von ihrem Weg zur neuen Heimat.

Hadil (r.) und Amer (l.) mit den Kindern von Bekannten im Sommercamp 2015.

Vor zehn Jahren - wenige Tage nachdem die damalige Kanzlerin Angela Merkel ihren legendären Satz "Wir schaffen das" gesagt hatte - erreichte die Flüchtlingswelle in Deutschland Anfang September unverhofft Otterndorf.  Die Sommerferien waren gerade zu Ende. Das Sommerlager der Stadt Hannover hinterm Elbdeich in Müggendorf sollte für den Winter abgebaut werden. Doch dann kam ein Hilferuf aus dem niedersächsischen Innenministerium. Über Nacht wurde das Ferien- zum Flüchtlingscamp - und bot zahlreichen Menschen Zuflucht. Vor allem aber bewiesen die Einwohner Herz, Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft. Die Geflüchteten fanden zwei Monate lang einen ersten sicheren Hafen, konnten zur Ruhe kommen und Kraft tanken. Gastfreundschaft und Willkommenskultur wurden auf beispiellose Weise gelebt. 

Dabei stand der Start unter gar keinem guten Stern - und war emotional hoch aufgeladen. Am Abend des 4. September 2015 landeten die ersten Busse mit Flüchtlingen in Müggendorf. Doch die völlig übernächtigten, und erschöpften Flüchtlinge wollten bei Regen, Wind und Dunkelheit nicht aussteigen. Schon gar nicht wollten sie die Zelte beziehen, sondern in festen Häusern untergebracht werden. Es kamen Familien, jedoch auch viele alleinstehende junge Männer. Hinter vielen lag ein beschwerlicher und gefährlicher Weg meist über die Türkei-Griechenland-Balkan-Route. Erst durch das Verhandlungsgeschick des damaligen Samtgemeindebürgermeister Harald Zahrte ließen sich die Menschen doch dazu bewegen, aus den Bussen zu steigen. Einige Tage später intervenierte er ein weiteres Mal erfolgreich beschwichtigend, als es um die Auszahlung von Taschengeld ging.

Hadil AbuQasem und Amer Mawed waren Bewohner der ersten Stunde im Multikulti-Zeltdorf hinterm Ebdeich. "Einfach nur weg aus dem Krieg in Syrien", war damals das Ziel der jungen Leute. Das Camp bot ihnen eine sichere Zuflucht. 45 Tage harrten sie bis in den Herbst hinein hier aus, bis es in die erste eigene Wohnung, zuerst in Neuhaus, später in Cadenberge ging, wo sie heute noch leben.

Längst sind sie hier mitten in der Gesellschaft angekommen. Statt Universitätsdozent ist Amer (37) heute Lehrer für Englisch sowie Werte und Normen an den BBS Cadenberge, Hadil (35) arbeitet als Integrationsbeauftragte in der Börde Lamstedt - und das private Glück ist um die beiden Kinder Cila (8) und Milan (3) gewachsen.  "Hier ist unsere neue Heimat", betont das Paar. Alle besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit - zum ersten Mal haben sie Pässe und Urkunden. Als Palästinenser galten sie in Syrien als staatenlos.

Hadil und Amer waren damals glücklich, endlich in Deutschland und somit in Sicherheit zu sein. "Unglaublich, wie die Zeit vergeht", staunen sie, dass ihre Ankunft bereits zehn Jahre zurückliegt. "Ich weiß noch, dass es richtig kalt war", erinnert sich Hadil. "Wir kamen nur mit unserem Rucksack und unseren schrecklichen Erinnerungen an den Krieg." Zuerst sollte Hadil nicht nur mit ihrem Ehemann, sondern acht fremden Männern im Zelt übernachten. Nachdem Gaby Behrens von den Johannitern interveniert hatte, waren es dann doch "nur" noch zwei andere Männer.

Englisch machte den Neustart ins Leben leichter

Ihre Studien- und Berufsabschlüsse sowie die Fähigkeit, sich fließend auf Englisch zu verständigen, hatten ihnen von vornherein den Start ins neue Leben erleichtert - hinzu kam ihre Bereitschaft, sich von vornherein aktiv einzubringen sowie ihr unbedingter Wille, schnellstmöglich Deutsch zu lernen.  Hadil und Amer waren als Mittler zwischen den Kulturen von Anbeginn Aktivposten im Camp.  Sie halfen aktiv mit, damit dort das Leben rund laufen konnte. Schon damals war dies ihr Ausdruck für Dankbarkeit gegenüber den Gastgebern.

Erstaunlich schnell hatte sich im Herbst 2015 in Müggendorf so etwas wie Alltag eingestellt. Die Geflüchteten tankten dort sichtlich Kraft und erholten sich von den Strapazen. Kinder karrten mit Rollern und Rädern über das Gelände, Männer trafen sich zum Rauchen und Reden vor der Halle, Frauen hängten auf den zwischen den Zelten gespannten Leinen ihre Wäsche auf, Jugendliche fuhren unter DLRG-Aufsicht auf dem Seetretboot. Verantwortlich für das Camp waren die Johanniter mit ihrem Einsatzleiter Thorsten Ernst - ein praktisch, pragmatisch und professionell agierendes Team.

In Windeseile Kleiderkammer organisiert

In Otterndorf organisierten ehrenamtliche Helferinnen und Helfer in Windeseile eine funktionierende Kleiderkammer im damals leer stehenden alten Feuerwehrhaus. Shuttlebusse verkehrten zwischen Camp und Innenstadt.  Zahlreiche Helfer aus der ganzen Umgebung fanden den Weg ins Camp selbst, um dort den angekommenen Geflüchteten Perspektiven zu geben. Die Otterndorfer Klinik stellte die medizinische Versorgung sicher, die Kirche richtete einen Kindergarten ein.

Die großartige Hilfsbereitschaft bleibt Amer und Hadil unvergessen. Wenn sie heute gefragt werden, woher sie kommen, sagen sie "Aus dem Norden aus Cadenberge." Hadil lacht und verrät, dass Amer manchmal Deutscher als die Deutschen sei. Er beschäftige sich eben gern mit Bürokratie. Das kommt es passend, dass er an den BBS für die Stundenpläne zuständig ist. Im Sommer hat die Familie ihren ersten richtigen Urlaub miteinander verbracht. Ein Woche Kreuzfahrt auf der "Aida". "Wir haben das Gefühl, gut integriert zu sei", betonen beide. Sie sind davon überzeugt, dass dies hier auf dem Lande einfacher sei, als in der Anonymität einer Großstadt. "Aber man muss auch selbst viel daran arbeiten", verdeutlichen sie, dass dies kein Selbstläufer ist, "Wie kleine Kinder mussten wir die Sprache lernen und haben hier wirklich von vorn angefangen." Von Beginn an hatten sie den Willen, hier zu arbeiten. Ihre Zielstrebigkeit wurde belohnt, bereits ab Februar 2016 - also keine fünf Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland - haben sie ihr eigenes Geld verdient.

Marei Gerken im Dialog mit geflüchteten jungen Männern.
Nach der Ankunft in Otterndorf.
Eine Familie gibt Einblick in ihr Zeltleben.
Harald Zahrte (l.) hört sich die Probleme an.
In der alten Feuerwache wurde flugs eine Kleiderkammer organisiert.
Zahlreiche Ehrenamtliche packten in der Kleiderkammer an.
Die Kinder kamen schnell mit der Lage klar.
Das großzügige Gelände erwies sich im Spätsommer 2015 als ideal, um erst einmal in Deutschland anzukommen.
Unbeschwertes Spielen war sogar möglich.
Ein Camp-Bewohner.
Beim Zuckerfest gab es viele Leckereien.

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