Über Zeit und Macht: Teresa Bücker liest in Otterndorf aus ihrem Buch "Alle_Zeit"
In Otterndorf sprach die Autorin Teresa Bücker über das, was uns oft fehlt: Zeit. Bei ihrer Lesung zu ihrem Buch "Alle_Zeit" zeigte sie, warum Zeit nicht Luxus, sondern eine Machtfrage ist - und warum ohne Zeit keine Demokratie bestehen kann.
Vor der Stadtscheune Otterndorf wehte an dem Herbstabend ein frischer Wind, drinnen hatten sich die Besucherinnen und Besucher dicht an dicht auf den Stühlen versammelt. Nach der Begrüßung durch Julia Binkowski, Bereichsleitung Sozialplanung des Landkreises Cuxhaven, nahm Teresa Bücker vorne Platz. uhig blickte sie ins Publikum, bevor sie begann, mit einem Satz, der den Ton für den Abend setzte: "Zeit kann man nicht mit Geld vermehren."
Im Rahmen des Themenschwerpunkts Demokratie hatte der Landkreis Cuxhaven am 30. Oktober zur Lesung mit ihr in die Stadtscheune Otterndorf eingeladen. Die Journalistin und Autorin stellte dort ihr Buch "Alle_Zeit - Eine Frage von Macht und Freiheit" vor. Das Werk, das 2023 den NDR-Sachbuchpreis gewann und für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert war, erschien bereits im Oktober 2022 - sei aber, so Bücker, aktueller denn je.
Zeit als politische Ressource
Bereits ihre Anreise nach Otterndorf hatte dank der Deutschen Bahn mehr Zeit in Anspruch genommen als geplant. Mit einem "Zeitpuffer" von drei Stunden war sie losgefahren und kam nur dadurch rechtzeitig an.
Bücker versteht Zeit als zentrale Ressource für gesellschaftliche Teilhabe. Wer zwischen Erwerbs- und Sorgearbeit keine freie Zeit habe, verliere die Möglichkeit, sich zu engagieren. "Zeit ist kein Luxus, sondern durch und durch politisch", betont sie.
In ihrem Buch "Alle_Zeit" entwirft sie die Vision einer neuen Zeitpolitik - einer, die mehr Gerechtigkeit im Zugang zu Arbeit, Familie und Mitbestimmung schaffen soll. Die aktuelle Entwicklung bewege sich, so Bücker, in eine falsche Richtung. Häufig konzentriere sich der Blick beim Thema Gleichstellung auf Geld, Lohn und Rente. Doch Zeit sei eine ganz eigene Dimension. Wie viel Zeit man zur Verfügung habe, hänge von vielen Faktoren ab: Migration, Alleinerziehendsein, Kinderzahl, Geschlecht.

Eine neue Zeitpolitik
Seit 1918 gibt es den Acht-Stunden-Tag - also seit über hundert Jahren. Auch damals sei es undenkbar gewesen, nur acht Stunden zu arbeiten. Doch arbeiten junge Menschen heute wirklich weniger, wie oft behauptet wird? Tatsächlich sei das jährliche Arbeitsvolumen gestiegen, erläuterte Teresa Bücker. Seit 1991 seien mehrere Milliarden Stunden Mehrarbeit hinzugekommen.
Frauen befänden sich häufig in Teilzeitbeschäftigungen - zumindest, was die Erwerbsarbeit betrifft. In Bereichen, in denen sie kein Geld für ihre Arbeit erhalten, seien sie dagegen Spitzenreiterinnen. "Wenn Frauen die Woche noch fünf bis zehn Stunden mehr bezahlte Arbeit leisten, haben sie eine 70-Stunden-Woche."
Nur weil man mehr arbeite, falle zu Hause nicht weniger Wäsche, Kinderbetreuung oder Angehörigenpflege an. Auch zwischenmenschliche Beziehungen bräuchten Flexibilität im Zeitmanagement. "Einen Text kann ich ab 18 Uhr liegen lassen und am nächsten Tag weiterschreiben - das funktioniert aber nicht bei Kindern oder Angehörigen."
Studien würden außerdem deutlich zeigen: Eine Erhöhung der Höchstarbeitszeit würde Rückschritte in der Gleichberechtigung bedeuten. Denn hauptsächlich Männer würden ihre Arbeitszeit ausweiten. Kurzfristig würde das Arbeitsvolumen vielleicht steigen, wenn Menschen eine 50-Stunden-Woche hätten. Langfristig würde es jedoch zu Krankheit führen und dazu, dass Menschen früher in Rente gehen müssten, so die Autorin.
Zeitgerechtigkeit und Demokratie
"Auch wenn die Menschen im Durchschnitt 105 Jahre alt werden würden, weiß ich nicht, welche Entlastung mir eine Wochen-Höchstarbeitszeit oder ein späteres Renteneintrittsalter jetzt bringen soll", scherzte die Journalistin.
In Pflegeberufen fordere man schon länger, die Vollarbeitszeit auf 30 Stunden zu reduzieren. Dort sei die Teilzeitquote bereits sehr hoch - nicht nur, weil viele Frauen in diesen Berufen arbeiteten. Die Belastung in Pflege- und Erziehungsberufen sei enorm. Viele Erzieherinnen und Erzieher würden nach sechs bis acht Jahren ihren Beruf verlassen - wegen der Arbeitsbedingungen.
Darüber hinaus müsse, so Bücker, auch der Begriff der "Vereinbarkeit" erweitert werden. Meist umfasse er nur Beruf und Familie, oft sogar nur die Kindererziehung. Doch auch demokratisches Engagement braucht Zeit. "Zu einer inklusiven, partizipativen Demokratie gehört auch, die Zeit zu haben, sich einzubringen."
"Zeitarme" Menschen seien derzeit unterrepräsentiert. Auch soziale Beziehungen fielen nicht unter den klassischen Vereinbarkeitsbegriff. "Wie viel Zeit braucht eine gute Beziehung? Wie viel Zeit brauche ich, um informiert zu sein? Wie viel Zeit braucht eine intakte Demokratie?", fragt Teresa Bücker.
Kein Erkenntnisproblem
Dabei warnt sie davor, die Frage nach der Arbeitszeit bestimmten Generationen zuzuschreiben. Das Zeitbedürfnis von Jung und Alt sei gleich. In der abschließenden Diskussionsrunde wurde Bücker gefragt, was ihr persönlicher Zeittipp sei. "Wenn Sie sich entscheiden müssen, ob Sie am Abend noch einmal laufen gehen oder Freunde treffen, rate ich zu Letzterem", sagt sie. Wissenschaftliche Erkenntnisse würden deutlich zeigen: Soziale Beziehungen wirken sich stärker auf die Lebenserwartung aus als Sport, Rauchen und Alkohol.