Cuxhaven: Austausch über Tücken des Gesundheitswesens
CUXHAVEN. Die Helios-Klinik Cuxhaven und unsere Zeitung hatten am Dienstag gemeinsam zu einem Forum eingeladen. Die Resonanz war beeindruckend.
Fast 200 Interessierte im Krankenhaus-Foyer und der Cafeteria: Für Dr. Bernward Steinhorst bildete sich hier am Dienstag "in idealer Weise das antike Forum in einer modernen Version ab": Die Helios-Klinik Cuxhaven und unsere Zeitung hatten gemeinsam eingeladen; den Impuls hatte die Klinikgeschäftsführerin Annika Wolter mit dem Wunsch und dem Angebot gegeben, zu Leserzuschriften und Berichten Stellung zu nehmen und ins Gespräch zu kommen.
Es wurde ein spannender, wenn auch langer Abend, in dem es um das Gesundheitssystem im allgemeinen, persönliche Erfahrungen, Lob und Verletzung und die Frage ging, was Presse darf und soll. "Ihr seid ja gar nicht so, wie in der Presse über Euch geschrieben wird", diesen Satz höre er so oder ähnlich öfter, berichtete Dr. Bernward Steinhorst, Oberarzt der Chirurgie. "Ich erlebe die Patienten ganz anders, als man glauben könnte, wenn man diese Artikel liest. Die meisten vertrauen uns."
Über das Gesundheitssystem, das dahinterstecke, wüssten die meisten nichts. Laut Definition gehe es dabei um eine "ausreichend zweckmäßige und wirtschaftliche" Versorgung.
Was dabei schief gehen kann, wurde in den vergangenen Monaten in zahlreichen Leserzuschriften geschildert: Auslöser war die Odyssee einer Otterndorferin auf der Suche nach Hilfe bei einem gynäkologischen Problem. Diverse Praxen waren geschlossen oder zeigten sich als nicht zuständig, bis sie am nächsten Tag in der Notaufnahme des Cuxhavener Krankenhauses Hilfe fand.
Qualvolle Stunden erlebten Eltern bis zur Diagnosestellung bei ihrem sechsjährigen Sohn, der schließlich - im letzten Moment per Krankenwagen von Cuxhaven nach Bremen gebracht - mit einem Blinddarmdurchbruch und in bedenklichem Zustand notoperiert wurde. Eine junge Frau in den 30ern musste Stunden warten, bis sie mit einem Schlaganfall in eine Fachabteilung (Stroke Unit) gebracht wurde.
Auf diese Beispiele angesprochen, räumte Dr. Steinhorst ein, dass, wo Menschen arbeiteten, auch Fehler geschähen. Diese würden in der Klinik auch ohne Presseberichterstattung regelmäßig aufgearbeitet. Vielfach entstehe eine gefährliche Situation durch eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen schon vor Ankunft im Krankenhaus - zum Beispiel durch nicht erreichbare ambulante Praxen oder die nicht erfolgte direkte Einlieferung in eine Fachklinik.
Eine nicht gelingende Kommunikation kristallisierte sich als einer der Hauptauslöser für Konflikte heraus. Uneinigkeit vor den Patienten löse Verunsicherung aus, gestand Dr. Steinhorst ein.
"Der Ton macht es"
Eine ältere Dame berichtete, wie entwürdigend sie es empfunden habe, vom Pflegepersonal angeranzt zu werden, als sie nach der Gabe von Schlafmitteln in einem von der Infusion durchnässten Bett erwachte und um Hilfe bat. "Die Tonart macht es. Eine vernünftige, anständige Antwort kostet nicht mal Zeit, auch wenn man im Stress ist."
Jede schwierige Situation, Wartezeit und Verschiebung lasse sich leichter ertragen, wenn diese schlüssig erklärt werde, stellten alle Beteiligten fest. Hierdurch lasse sich sogar Zeit sparen.
Dr. Bernward Steinhorst wies auch darauf hin, dass sich häufig alles in den Krankenhäusern konzentriere, wenn in den Praxen der Niedergelassenen Zeit und Ressourcen fehlten. Sicherlich ein Auslöser für Stress und möglicherweise daraus resultierende Fehler.
Nur schlechte Nachrichten?
Aber muss das dann auch in die Zeitung? Dr. Imke Geest, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in Cuxhaven, unterstellte den Medien eine "Denkverzerrung": "Sie leben von schlechten Nachrichten." Dieses schüre unter Umständen Ängste. Sie wünschte sich, dass Zeitungen Kritik konstruktiver gestalteten.
Mehrere Klinikbeschäftigte, darunter der Ärztliche Direktor Dr. Mohamed Al-Mwalad und Betriebsratsvorsitzende Ellen Groß, äußerten deutlich ihren Unmut über die Berichterstattung, zeigten sich "erschrocken" und sprachen gar von einer "Kampagne" (Al-Mwalad). "Die Traumklinik gibt es im Fernsehen. Sie haben hier eine verdammt gute Klinik."
Redaktionsleiter Felix Weiper wies auf diverse Zuschriften positiven Inhalts hin, die ebenfalls veröffentlicht worden seien (wie es übrigens seit Jahr und Tag Sitte ist, d. Red.). Die Zeitung lege auch großen Wert darauf, kritische Themen ausgewogen und aus verschiedenen Blickwinkeln heraus darzustellen. Unterstützung gab es aus dem Publikum, wo beispielsweise ein Zuhörer betonte, ihm mache die "Presseschelte" Angst. Es sei wichtig, über Vorkommnisse zu berichten. "Das hat nichts damit zu tun, dass die Klinik niedergemacht wird. Wir haben wunderbare Schwestern, Ärzte und Pfleger, nur haben wir zu wenige davon", konstatierte er unter Applaus.
"Der Personalmangel ist eine Katastrophe für die Patienten", hieß es weiter. Um das zu ändern, brauche es Unterstützung aus der Politik, gaben Beschäftigte zu bedenken. Auch auf den demografischen Wandel und somit die steigende Zahl älterer Personen im Krankenhaus müsse mit einer besseren finanziellen Ausstattung reagiert werden. Eine leitende Kraft der Notaufnahme sah beide Seiten in der Verantwortung: Das mit den Vorgängen vertraute Klinikpersonal könne sich noch mehr in die Gedanken der Patienten hineinversetzen, die sich in einer Ausnahmesituation befänden. Andererseits beobachte sie aber auch ein nachlassendes soziales Verständnis - bis hin zu offenen Angriffen auf Hilfskräfte.
Rolle der Konzerne
Auf die Gewinnbestrebungen privater Krankenhausträger angesprochen, verwies Steinhorst auf deren hohes Engagement bei Ausstattung und auch baulichen Investitionen, die eigentlich Sache der Länder wären. "Wir müssen uns klar machen, woher wir kommen." Viele öffentliche Krankenhäuser wären ohne Übernahme durch Private am Ende gewesen. Beim Blick auf die Versorgung müsse sich jeder Einzelne fragen, wie viel er oder sie mehr zu zahlen bereit sei. "Die Konzerne machen etwas und sie wollen auch etwas zurück. Es sind der Bund und die Länder, die sie reingelassen haben und jetzt die Quittung erhalten", gab Dr. Hinnerk von Thun-Hohenstein (Krankenhaushygieniker) zu bedenken.
Mehrere Forumsgäste äußerten sich dennoch im Großen und Ganzen mit der gesundheitlichen Versorgung zufrieden. Dies stimmt mit den Ergebnissen einer Umfrage überein, bei der 73 Prozent der Bundesbürger ihre grundsätzliche Zustimmung bekundeten.
"Die Leute schauen sich eben um", stellte Dr. Stefan Menzel, Oberarzt der Kardiologie, fest. Er selbst kenne die Situation aus England. Dort werde eine Behandlung mit Blick aufs Alter auch mal einfach eingestellt. Auch Dr. Steinhorst blickte über die Grenzen, wo Wege in Notfallpraxen oder Wartezeiten auf Operationen deutlich andere Ausmaße annähmen als in Deutschland.
Der Abend endete mit der sensiblen Frage, wie auch beim Abschied Würde bewahrt werden kann. Ausgelöst wurde dies durch die Kinder einer alten Dame, die im Dezember ihre gerade verstorbene Mutter in einer Wäschekammer vorgefunden hatten. Mucksmäuschenstill hörten die Anwesenden der Schilderung der Tochter zu, die feststellte: "So übergibt man keine tote Mutter."
Ein Vorfall, der auch im Krankenhaus mit Erschütterung aufgenommen worden sei, zumal es einen Abschiedsraum sehr wohl gebe, so Dr. Steinhorst. Ebenso wie Pflegedienstleiter Bernd Hartig betonte er, dass darüber sofort intensiv gesprochen worden sei. Bernd Hartig erneuerte sein Angebot, mit den Hinterbliebenen zusammenzukommen, auch außerhalb des Krankenhauses. "Das hätten wir auch gemacht, wenn kein Bericht in der Presse erschienen wäre."
Hintergrund
Von Oktober 2018 bis zum 19. Januar 2019 haben CN und NEZ acht Themen-Seiten mit Beiträgen veröffentlicht, in denen Leserinnen und Leser ihre Erfahrungen mit Ärzten und Krankenhäusern schilderten - es ging dabei nicht nur um die Helios-Klinik in Cuxhaven. Positives kam ebenso wie Negatives zur Sprache, es gab Beiträge aus der Ärzteschaft ebenso wie von Betroffenen.
Zuletzt hatte der Bericht über eine Verstorbene, die im Dezember von ihren Kindern in einer Wäschekammer der Klinik vorgefunden worden war, viel Aufmerksamkeit erregt.
Das gemeinsame Informationsforum unserer Zeitung und der Helios-Klinik am Dienstag sollte Gelegenheit geben, über geschilderte Fälle und über das Gesundheitssystem ins Gespräch zu kommen. Die Gestaltung und Moderation übernahmen Dr. Bernward Steinhorst (Oberarzt der Chirurgie in der Helios-Klinik Cuxhaven), Felix Weiper (Redaktionsleiter der CN und NEZ) sowie CN/NEZ-Redakteurin Wiebke Kramp.