Cuxhaven: Kritischer Blick auf Digitalisierung
CUXHAVEN. Alle rufen nach Digitalisierung in der Bildung. Aber was holen wir uns damit in den Klassenraum? Von Maren Reese-Winne
"Digital first, Bedenken second" - so prangte es auf einem Wahlplakat des FDP-Spitzenkandidaten Christian Lindner im vergangenen Bundestagswahlkampf. "Was spricht gegen ein paar Bedenken?", fragte sich Dr. Matthias Burchardt (Universität Köln) vergangene Woche vor Lehrkräften in Cuxhaven. Was er zu berichten hatte, ließ einem ein ums andere Mal kalte Schauer über den Rücken laufen.
Solche, wie sie Burchardt selber hat, wenn er den chinesischen Sinnspruch (gerne mit träumerischen Landschaftsbildern garniert) "Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen" präsentiert bekommt. Seine Interpretation: "Die offene Aufforderung zum Opportunismus. Dreh dein Fähnchen nach dem Wind, als ob das naturgegeben sei..."
Aber die Digitalisierung in der Bildung ist das nicht, ihr liegen handfeste Interessen zugrunde. Der GEW-Ortsverband Cuxhaven (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) hatte Burchardt (Akademischer Rat der Universität zu Köln) eingeladen, um Hintergrundwissen zur bewussten, aber kritischen Begleitung dieser Bewegung zu erhalten.
Burchardt belegte mit beklemmenden Beispielen, dass die Übergriffe auf das Bildungswesen mitnichten vom Streben nach der besten Pädagogik getragen sind, sondern vielmehr von wirtschaftlichen Interessen, bisweilen übergreifend in "Umerziehung" und Manipulation.
"Digitale Medien und Lehrmittel können eine Bereicherung sein", stellte er klar. Maß aller Dinge aber müsse die pädagogische Freiheit sein. "Computer machen nicht die Bildung." Kritiker des Systems - und mit ihnen gleich Werte wie Demokratie und Sozialstaat - als folklorehafte Elemente der Vergangenheit abzustempeln, sei eine Strategie. "Nicht gute Gründe für die Digitalisierung werden durchgesetzt, sondern Firmeninteressen."
Zum einen habe das mit Geld zu tun. Genügend Geld in eine gut mit Personal ausgestattete Bildung zu stecken, sei eine Entscheidung. Deutschland könne das - "Verglichen mit anderen Ausgaben wäre das ein Klacks" -, tue es aber nicht.
Statt dessen aber wolle man lieber "möglichst viel Output ohne den erforderlichen Input" erreichen: "Der Staat schafft es nicht mehr und gibt seine Aufgaben ab an private Institutionen" (übrigens nicht nur im Bildungswesen). "Und die Verwahrlosung verkaufen wir dann als Freiheit", stellte der Wissenschaftler sarkastisch fest.
Dabei gehöre Lernen in Beziehungen eingebettet. "Für die Lehrerinnenrolle müssen Sie sich ganz stark machen." Denn schon werde über Roboter im Klassenzimmer gesprochen - nicht widerspenstig, nie krank und in der Lage, zu Beginn des Schuljahres schon mal die Noten jedes Kindes vorherzusagen.
Matthias Burchardt lieferte beklemmende Visionen von Lernprogrammen, die Lernende und ihre Fähigkeiten bis ins Kleinste analysieren und steuern, er stellte die Mechanismen der Manipulation vor; die in kleinen Gruppen (wie Lehrerkollegien) ebenso zu Einsatz kommen wie in der Gesamtgesellschaft.
Am Anfang werde gerne ein Schock inszeniert. "So wie die Pisa-Studie - wissenschaftlicher Effekt mager, politischer Effekt groß." Risiko: Statt Kinder zum Denken zu erziehen, würden lieber Aufgaben für den nächsten Vergleichstest auswendig gelernt.
Doch wie bestehen als Lehrkraft in einem Umfeld, in dem die soziale Anerkennung auf Grundlage der Fans auf virtuellen Plattformen errechnet wird, süchtigmachende Glückshormone vorzugsweise durch den Klick auf einen "Gefällt mir"-Daumen ("wie bei den Gladiatoren im alten Rom") ausgeschüttet werden und Cybermobbing Alltag an Schulen ist? "Keiner muss das allein lösen", ermunterte Burchardt. Einfach sei es aber nicht, dem Lobbydruck und der Verführung etwas entgegenzusetzen.
Ein Funke Hoffnung: "Analog ist das neue Bio. Viele haben Heimweh nach dem analogen Leben. Der Mensch ist eben nicht auszurotten."