An verschiedenen Stellen in der Stadt wurden Nissenhütten hochgezogen. Pro 66 Quadratmeter Wohnraum waren bis zu 16 Bewohnerinnen und Bewohner erlaubt. Darüber hinaus wurde auch jede frei werdende Baracke zur Wohnung umgebaut.
An verschiedenen Stellen in der Stadt wurden Nissenhütten hochgezogen. Pro 66 Quadratmeter Wohnraum waren bis zu 16 Bewohnerinnen und Bewohner erlaubt. Darüber hinaus wurde auch jede frei werdende Baracke zur Wohnung umgebaut.
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Cuxhaven vor 75 Jahren: Als jede Hütte zur Wohnung wurde

von Maren Reese-Winne | 15.11.2021

CUXHAVEN. Dass Wohnungen in Cuxhaven für Einheimische erstens fehlen und zweitens unbezahlbar werden, sorgt nicht erst seit gestern für Schlagzeilen. Das ist aber nichts gegen die dramatische Lage vor 75 Jahren.

Die im Stadtarchiv aufbewahrten Aufzeichnungen der Stadtvertretung aus dem Jahr 1946 beschreiben, vor welch gewaltigen Herausforderungen die Stadt damals stand.

Anfang 1946 waren die Mitglieder des Bau- und Wohnungsausschusses noch von den Engländern berufen (die erste freie Kommunalwahl nach dem Ende des NS-Regimes fand erst am 13. Oktober 1946 statt). Am 21. Januar legte das Gremium die Richtlinie über die "Beschlagnahme von Wohnräumen aktiver Nationalsozialisten" fest. Einem Ehepaar wurden ein Schlafzimmer und eine Wohnküche zugestanden, sofern die Küche als Wohnküche anzusehen war; sonst ein Raum mehr. Eltern mussten sich mit ihren Kindern bis zum Alter von zehn Jahren den Schlafraum teilen; für ältere Kinder war ein gemeinsames Zimmer (oder zwei, wenn es Jungen und Mädchen waren) vorgesehen. Darüber hinaus musste auch hier die Wohnküche reichen.

Mitbewohner im Haus

Und dann wurde zugewiesen, und das gnadenlos und wohl nicht nur bei bekannten Nazis. Die Akten sind voll von Wohnraumzuweisungen. Ein Arzt suchte darum nach, in einem von ihm gekauften Haus mit seiner siebenköpfigen Familie in eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung ziehen zu dürfen und der darin wohnenden Frau mit Kind ("Ehemann noch in Gefangenschaft") eine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung im selben Hause zuzuweisen.

Firmen wurden angewiesen, Lagerräume für Wohnraumzwecke freizumachen. Zuziehen dürfen sollten allenfalls noch dringend benötigte Arbeitskräfte, nicht aber deren Familien. Flüchtlinge durften zunächst überhaupt keine eigene Wohnung haben, später war dies erlaubt, sofern sie die Wohnung mit eigenen Mitteln herstellen konnten.

In Bunkern und Turnhallen

Am 27. März stimmte das Gremium dem Antrag des Flüchtlingsvertreters Henning zu, nach dem alle in Bunkern und Turnhallen untergebrachten Personen zu erfassen und anderweitig unterzubringen seien.

Aus den Unterlagen lässt sich ablesen, dass das Zusammenwachsen mit den Fremden - und dabei handelte es sich doch um Deutsche - alles andere als reibungslos vonstatten ging: So wird beklagt, dass manche Flüchtlinge, die "das Gastrecht in der Stadt genössen", nicht das nötige Verständnis dafür aufbrächten. Es seien teilweise bei den Vermietern durch das Verschulden der Flüchtlinge Zustände eingetreten, die abzustellen "besondere Aufgabe der Flüchtlingsbetreuer" sei.

"Unsaubere" Haushaltsführung bestraft

Die Einberufung einer Versammlung, in der er auf die Missstände hinweisen sollte, lehnte Mittelsmann Henning rundheraus ab. So wurde beschlossen, dass betreffende Personen in den Nissenbaracken unterzubringen seien. Namentlich genannt ist eine Familie, die durch "große Unsauberkeit" aufgefallen sei. Zwei anderen Familien wird hingegen das Betreiben von Lebensmittelgeschäften in ihren Hütten am Ackerweg (heute Wagnerstraße) und im Brockesweg erlaubt.

Nissenhütten waren eilends hochgezogene Behelfsheime aus Wellblech mit charakteristisch gewölbtem Tonnendach. Der Ausschuss legte die Belegungsgrenzen fest: Eine Baracke von 66 Quadratmetern bot zwei Wohneinheiten. Die niedrigste zulässige Belegung pro halber Baracke betrug vier Personen, die höchste acht. Über acht Personen durften eine Baracke alleine bewohnen.

"Es sind trotzdem Deutsche..."

Am 28. März stellte der soeben zum Oberbürgermeister gewählte Karl Olfers (SPD) zu den Flüchtlingen fest: "Ein Teil von ihnen ist vielleicht in ihre alte Heimat zurückgekehrt, der größte Teil aber wird hierbleiben. Wenn sie auch Menschen anderer Stämme (!) sind, sie sind trotzdem Deutsche und müssen in unsere Heimat hineinwachsen. Zunächst handelt es sich um eine menschenwürdige Unterbringung (...)." Olfers kündigte eine Haussammlung an, bei der Möbelstücke und Hausrat für die Neubürger gesammelt werden sollten: "Der Erfolg hängt ab von der Einsicht unserer deutschen Volksgenossen."

In seiner Rede am 24. Oktober 1946 - Olfers ist nach der ersten freien Wahl soeben als Oberbürgermeister bestätigt worden - bekommen auch die Briten ihr Fett weg: In der Wohnungsfrage stießen sich die Bedürfnisse der Stadt mit den Anforderungen der Besatzungsmacht, die hier viel zu viele Dienststellen unterhalte und zu viele Häuser für Wohnzwecke beschlagnahmt habe: 70 Ein- und 20 Mehrfamilienhäuser, 26 Wohn- und Geschäftshäuser, 19 Hotels: 254 Familien und viele Einzelpersonen hätten ihre Wohnungen räumen müssen.

Gnadenloser Stromverbrauch

Insgesamt 1500 beschlagnahmte Wohnräume - das sei im Verhältnis mehr, als die Besatzungsmacht in Hamburg beanspruche. Die Aufforderung zur Räumung erfolge wahllos und oft "in unmöglich kurzer Zeit". Außerdem besetze das britsche Militär unzählige weitere öffentliche Gebäude wie die früheren Kasernen und Forts, das Minendepot Groden, den Minensucherhafen, den alten Hafenbahnhof und die gesamten Hapag-Hallen, Fischbetriebe und -hallen. Das gefährde auch die Versorgung der ganzen Stadt mit Wasser, Gas und Elektrizität.

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Maren Reese-Winne

Redakteurin
Cuxhavener Nachrichten/Niederelbe-Zeitung

mreese-winne@no-spamcuxonline.de

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