
Cuxhavener Archäologe: Nach 34 Jahren in den Ruhestand
CUXHAVEN. Das Sensationellste, Schönste oder Wertvollste, was er in 34 Jahren aus dem Boden geholt hat, kann und möchte der Cuxhavener Stadtarchäologe Andreas Wendowski-Schünemann gar nicht benennen.
Ende 2019 geht er in den Ruhestand. "Ich war von allem begeistert und könnte morgen 1000 Dinge wieder anfangen", sagt er.
Cuxhavens Boden biete Massen an Funden; auf jedem Quadratmeter und vor allem auf der Geest - die Fachwelt wisse das: "Gehen Sie mal ins Land, erwähnen Sie mal zum Beispiel in München Cuxhaven. Unsere Funde und Fundplätze kennt man dort. Nur ein Beispiel: Der Duhner Ringwall ist einmalig - es gibt nichts Vergleichbares; jedenfalls nichts, was wir schon entdeckt hätten."
Der Ringwall, das Schloss Ritzebüttel, die vielen Fundplätze in Altenwalde - das ohne den Deichbau vielleicht zu einer Hansestadt vom Range Stades geworden wäre -, der Galgenberg und seine Umgebung, der Hadelner Seebandsdeich: All diese Orte und noch viele mehr hat Andreas Wendowski-Schünemann den Cuxhavenerinnen und Cuxhavenern neu erschlossen und erklärt.
Den Landstrich, der Menschen über Jahrtausende hinweg sehr lebenswert erscheint - immerhin haben 400 Generationen hier ihre Spuren hinterlassen -, nennt auch er "sehr reizvoll in jeder Hinsicht". Bis auf eins: die verkehrstechnische Anbindung nach Hamburg.
Dass er als Hamburger einmal Cuxhavener Stadtgeschichte schreiben würde, war beim Abitur nicht zu erahnen. Vom Chemiestudium mit Ziel Diplom wechselte er schnell zum Lehramt und wählte als zweites Fach Philosophie dazu. Erst ein Job zum Geldverdienen führte ihn auf eine Ausgrabung. Er fand Gefallen. "So landete ich bei der Archäologie." Als er 1985 sein Examen ablegte, hatte ihn sich die Stadt Cuxhaven schon gesichert.
Denn 1984 - da war er noch im Examen - hatte Andreas Wendowski-Schünemann die Voruntersuchung zu den Ursprüngen des Schlosses Ritzebüttel begleitet. Für die Fortsetzung hatte das Land Niedersachsen Fördermittel in Aussicht gestellt - Voraussetzung: Die Arbeiten mussten durch einen Archäologen begleitet werden. Das Personalamt rief bei Andreas Wendowski an.
Nur kurz stand sein Schreibtisch im Bauordnungsamt; schnell kamen die damaligen Dezernenten Hans-Peter Conrady und Rolf Gelhausen zur Erkenntnis: "Der Archäologe muss im Museum sitzen." "Wenn man hörte: ,der ist vom Bauordnungsamt‘, machten die Leute zu; wenn das Museum anklopfte, gab es offene Türen", schmunzelt Andreas Wendowski-Schünemann.
Bis dahin hatte die Stadt nur ehrenamtliche Beauftragte für die Bodenarchäologie benannt, der bekannteste war Karl Waller; später übernahm Fritz Güntzler.
Im Reye'schen Haus in der Südersteinstraße war Wendowski dem Schloss Ritzebüttel nahe. Die Ausgrabungen dort; unter anderem im Eingangsbereich und am Rundbeet vor der Schloss-Frontseite, dauerten von 1985 bis 1987 und lieferten Erkenntnisse über die Baugeschichte, die über die überlieferten Urkunden hinausgingen. Die spätmittelalterlichen Fundamente stammen aus dem 14. Jahrhundert (etwa 1340).
Unter anderem die alten Veröffentlichungen Karl Wallers halfen ihm dabei, die Zusammenhänge wieder herzustellen; das waren mühselige Arbeiten, die nicht immer öffentlichkeitswirksam nach außen drangen.
1991 legte der Landschaftsverband Stade ein auf zehn Jahre ausgelegtes Restaurierungsprogramm für Funde in nichtstaatlichen Museen auf. Für 300 000 DM, die die Stadt Cuxhaven, der Landschaftsverband und das Land zu gleichen Teilen aufbrachten, wurden die archäologischen Sammlungsbestände restauriert. "Dabei kamen viele Details zum Vorschein, die man vorher gar nicht gesehen hatte, und zeigten, welche Kostbarkeiten wir da überhaupt hatten", schwärmt der Fachmann, der da längst die Auswirkungen der Finanzkrise der Stadt spürte.
In Zusammenarbeit mit dem Landesmuseum Hannover wurden Anfang der 90er-Jahre im Pennworthmoor in Sahlenburg Spuren späteiszeitlicher Rentierjäger gefunden. Vor 12 000 Jahren hätten sie England noch auf dem Landweg erreichen können; Sahlenburg befand sich noch im Binnenland. Dies sind die ältesten in Cuxhaven bisher bekannten Funde. Das Pennworthmoor und das Scharmoor, Twellbergsmoor oder Deemoor (bei Arensch) verlockten Bodenkundler zu vielen weiteren Forschungen: "Da sind mehrere Examensarbeiten draus entstanden."
Und das auch schon in früheren Jahrhunderten: Das unterstützten die jüngsten Funde an der Seeburg, ein archäologischer Leckerbissen. Mittelalterlich wie die Siedlung an der Schonung, aber deutlich älter. Damals konnten Handelsschiffe noch über Priele bis an den Rand der Geest fahren und sich dort trockenfallen lassen - und hier wurde offenbar reger Handel an einem Ufermarkt betrieben.
Ein Indiz: Ein Schiffsniet, der zu einem schon sehr ansehnlichen Boot gehört haben muss. "Einbäume waren das nicht", so Wendowski-Schünemann. Bekannt ist, dass es schon damals Segelanweisungen für die Küste gab, in denen die zu erreichenden Tagesstrecken festgehalten waren.
Auch Handelswaren fanden sich reichlich: Zum Beispiel Glasfragmente aus dem Rheinland zur Glasperlenherstellung (frühes Recycling sozusagen), Mühlsteine und Keramikgefäß-Scherben, wie sie im Rheinland hergestellt wurden. Das Ganze in einem Ensemble von Grubenhäusern, in denen Handwerker ihrer Arbeit nachgingen.
Euphorie erzeugte auch eine überaus seltene Doppelheiligenfibel, von der bisher erst fünf ähnliche Stücke bekannt sind; zwei davon stammen aus Dorestad, einer Handelssiedlung aus dem 7. bis 9. Jahrhundert. Das fügt sich ins Bild dieses Fundortes ein. Ein weiterer Hinweis auf eine frühmittelalterliche Besiedlung (6. bis 11. Jahrhundert n. Chr.) sind die neun friesischen Goldmünzen aus dem 7. Jahrhundert n. Chr. 2016 fand der Cuxhavener Ralf Braesch (anerkannter Sondengänger) eine weitere Golfmünze aus fast demselben Zeitraum.
"Ein ganz außergewöhnlicher Fundplatz", sagt Andreas Wendowski-Schünemann zu dem Grundstück Kamp an der Seeburg. "Wir haben dort hohe Auflagen erlassen, denn dies ist das letzte Stück Frühmittelalter, das wir noch in Altenwalde haben." Deshalb darf dort auch vorerst noch nicht gebaut werden.
Dieses von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Projekt wird fortgeführt und vom Niedersächsischen Institut für historische Küstenforschung in Wilhelmshaven weiter wissenschaftlich begleitet. Kaum ist eine Siedlung entdeckt, stellt sich für Wissenschaftler prompt die Frage: "Und wo ist der Bestattungsplatz dazu?" Den kennt man hier noch nicht. Aber Hinweise gibt's …
Zwischen Gudendorf und Köstersweg verhielt es sich genau umgekehrt: Dort war ein großes Gräberfeld aus einem der ersten nachchristlichen Jahrhunderte als erstes bekannt. Aber wo war die Siedlung? Neue wissenschaftliche Verfahren machten es möglich, genauer nachzusehen. Die geomagnetischen Aufnahmen aus der Luft verzückten alle: Denn anhand der sichtbar gemachten Störungen im Boden waren die Siedlungsspuren deutlich zu erkennen. Prompt wurde der Praxislehrgang eines Sondengänger-Kurses in das Gebiet verlegt, wobei es dann auch vielversprechende Ergebnisse gab. Hier liegt ein weiteres noch offenes Forschungsfeld.
In Altenwalde grub Andreas Wendowski-Schünemann aber auch an der Kreuzkirche, am früheren Kloster Wohlde und am Burgwall, der schnurgeraden Verbindung nach Berensch; nicht zuletzt natürlich an der Altenwalder Burg. Am Ende entstand hieraus die Beschilderung eines archäologischen Rundwegs; einen solchen Geschichtspfad gibt es auch in Berensch.
Und beim Nachsehen gab es Aha-Erlebnisse. Der Ringwall, eine sächsische frühgeschichtliche Wallanlage, wie man über Jahrzehnte geglaubt hatte? Weit gefehlt. In Wirklichkeit stammt sie aus der Frühbronzezeit und ist etwa 3500 Jahre alt. So ein alter Siedlungsplatz war weit und breit nicht bekannt. Was haben die Menschen dort getan? Weitere Rätsel gab ein Scheiterhaufen im Inneren der Anlage auf. So eine Bestattungsform war hier bisher völlig unbekannt. Als im Zuge des Beweissicherungsverfahrens für die Elbvertiefung computergestützte Laseraufnahmen der Küstenlinie aus der Luft aufgenommen wurden, kamen weitere erstaunliche Details ans Licht: Es erschien das Relief einer noch viel größeren Wallanlage um den Ringwall herum, die im Jahr 2018 untersucht wurde. Es gibt viele Hinweise darauf, dass es sich hier um eine "mystische Landschaft" handelt. Die Archäologen sind hier noch längst nicht fertig.
Die Forschungen zum Mittelalter seien aber längst nicht beendet, betont Wendowski-Schünemann: In Berensch vermute man "ein Pendant zu Altenwalde". Mehr Erkenntnisse sollen Voruntersuchungen im kommenden Jahr bringen.
Einen Meilenstein im Rahmen seiner Arbeit stellten auch die Grabungen am alten Hadler Seebandsdeich in Altenbruch dar. Einst ging jener von Cuxhaven bis Belum; der letzte Rest sollte, bevor das Gelände für die Gewerbeansiedlungen planiert wurde, archäologisch untersucht werden.
800 Jahre Deichgeschichte erzählte das letzte Reststück zwischen Groden und der Altenbrucher Schleuse mit seinen Ursprüngen im 12. Jahrhundert. "Das war im deutschen Küstenraum der letzte verbliebene noch funktionsfähige Deich; bis 1980 war er noch in Funktion", so Wendowski-Schünemann.
Ein Deichrest ist im Altenbrucher Landschaftspark erhalten; im Pavillon daneben, der auch ein außerschulischer Lernort ist, gibt es mehr zu erfahren. Andreas Wendowski-Schünemann freut sich immer, wenn "die Leute anhalten, gucken und lesen."
Unterdessen hat die Stadt Cuxhaven die Stelle eines Stadtarchäologen oder einer Stadtarchäologin neu ausgeschrieben. Perspektivisch sollen er oder sie später einmal auch in die Museumsleitung des Museums "Windstärke 10" nachrücken.