
Cuxhavens Oberbürgermeister Uwe Santjer: "Diese Situation ist richtig brisant"
CUXHAVEN. "Wir merken, dass sich die Sonntagsdemos in ihrer Qualität verändern. Der Ton wird rauer. Neue Personen koppeln sich an," stellt Cuxhavens Oberbürgermeister Uwe Santjer fest.
"Wir beobachten, dass die Versammlung vermehrt von Auswärtigen besucht wird," ergänzt er. Die deutschlandweit zutage tretende Radikalisierung macht zunehmend deutlich: Von selbst reguliert sich das nicht. "Wir müssen klare Zeichen setzen, wie der Rechtsstaat funktioniert. Cuxhaven wird sich nicht wegducken."
Versammlungsrecht erlaubt die Spaziergänge
Auch am vergangenen Sonntag versammelten sich die Demonstrierenden, die sich selbst Sonntagsspaziergänger nennen, wieder auf dem Kaemmererplatz. Sie redeten, spielten laute Musik und zogen mit Tröten und Sirenen Richtung Weihnachtsmarkt. Grundsätzlich dürften sie das, erklärt Uwe Santjer: "Das Versammlungsrecht ist als Grundrecht besonders geschützt."
Ursprungsthema missbraucht
Die Auflagen der Stadt habe der Veranstalter bislang erfüllt. Ein Lautstärkepegel von 70 dB (laut orientierender Tabellen entspricht dies einem Staubsauger oder Haartrockner, d. Red.) sei zulässig, nach Messungen der Polizei sei dies eingehalten worden. Beunruhigt ist Santjer angesichts einer neuen Durchmischung der Auftretenden. Staatsfeindliche rechte Gruppen missbrauchten die Impfgegner-Bewegung in ganz Deutschland und Europa zu politischen Zwecken.
"Nicht alle Impfgegner radikal"
Auch in Cuxhaven liefen Personen, die nur gegen das Impfen protestieren wollten, Gefahr, vereinnahmt zu werden. Mit diesen Menschen, die vielleicht sogar nur zufällig da seien, müsse man reden. "Nicht alle Impfgegner sind radikal", betont Uwe Santjer. Die Demonstrationsfreiheit müsse gewährleistet sein, aber wenn die Hemmschwelle so weit sinke, dass Personen wie Pflegekräfte, Beschäftigte von Test- oder Impfzentren, Polizei, Presse oder Politik verfolgt, beschimpft und beleidigt würden, sei das eine klare Grenzüberschreitung, der nicht tatenlos zugesehen werden dürfe.
"Zu lange zugeschaut"
Im Fall Gunnar Wegener (der SPD-Kommunalpolitiker wurde mit Schmähgesängen vor seiner Wohnung beleidigt und bedroht, wir berichteten) sehe er einen Straftatbestand erfüllt und hoffe, dass die Ermittlungen der Polizei zum Ziel führten. Der Protestbewegung sei in Deutschland zu lange zugeschaut worden. Die Strategie, dieser Gruppe keine Bühne zu bieten, reiche nicht mehr. "Aber wir brauchen auch Grundlagen, um einschreiten zu dürfen", sagt Uwe Santjer.
Mit einigen Gruppierungen sei nicht mehr zu reden
Sorge bereitet ihm die gesellschaftliche Spaltung, die sich auch in Cuxhaven bis in Freundeskreise und Familien hineinschleiche. "Seit zwei Jahren schon müssen wir aufpassen, dass uns das friedliche Miteinander in der Stadt nicht entgleitet." In einer aufgeheizten Situation voller Ängste - Angst vor einer Ansteckung, Angst vor der Impfung, Angst vor Extremismus - beobachte er, dass mit einigen Gruppierungen gar nicht mehr zu reden sei: "Manche wollen sich gar nicht beteiligen, sondern sind nur auf Krawall aus."
Bewältigung der Pandemie verschärft durch Omikron
Angela Merkel habe mit Recht von der "herausforderndsten Situation für Deutschland nach dem Krieg" gesprochen: "Wir haben hier eine gesellschaftspolitische Situation, die richtig brisant ist", unterstreicht Santjer. Und das neben der epidemiologisch schon äußerst angespannten Situation. Denn eigentlich verlange schon die Bewältigung der Pandemie alles ab; jetzt noch verschärft durch Omikron: "Wir haben Sorge, dass wir angesichts der Prognose einer rasanten Ausbreitung im Januar an unsere Kapazitätsgrenzen kommen."
"Akt der Solidarität"
Die Impfung betrachtet er in einer Lage "von nationaler Tragweite" neben dem persönlichen Schutz auch als einen Akt der Solidarität. "Je mehr Menschen sich impfen lassen, desto größer ist die Chance, dass sie vor einer Aufnahme auf die Intensivstation bewahrt werden. Wir alle müssten doch Interesse daran haben, dass diese Pandemie durchbrochen wird", gibt er zu bedenken. Schon lange sei bekannt, dass wir zukünftig mit Corona leben müssten. "Und mit Corona lebt es sich wirklich besser, wenn man geimpft ist."
Das Positive sehen
Für ihn sei das Glas immer noch zu drei Vierteln voll: Cuxhaven sei bislang recht gut durchgekommen und habe eine große Chance, dass das so bleiben könne. Und das unter Bedingungen, die zwar schwierig seien ("einfache Lösungen gibt es nicht"), aber doch zumindest einen Großteil des gesellschaftlichen Lebens aufrecht erhielten: "Es sind keine Geschäfte und keine Restaurants geschlossen, wir dürfen arbeiten. Es gibt Bereiche, in denen ich gar keine Einschränkungen erlebe, wenn ich mich an die Regeln halte."
Bündnis eingeschaltet
Damit am Ende auch eine intakte Gesellschaft übrig bleibt, setzt Uwe Santjer auf die Kraft des "Bündnisses für Respekt und Menschenwürde", das er in dieser Woche zu einer Videokonferenz zusammengerufen hat. Dieses Bündnis verschiedenster sozialer Einrichtungen, Vereine und Parteien hat schon mehrfach in Cuxhaven Menschen zusammengeführt, wenn es darum ging, öffentlich für demokratische Werte einzustehen.
Extremismus die Stirn bieten
"Alle, die an einem vielfältigen, freundlichen und demokratischen Cuxhaven Interesse haben, müssen sich vereinen", wünscht sich Uwe Santjer. Das Bündnis könne den Kitt darstellen, den es brauche, um die Stadt zusammenzuhalten, dem Extremismus die Stirn zu bieten und zu zeigen: "Wir sind mehr."