
Cuxland: Das Rätsel der verschwundenen Mädchen
KREIS CUXHAVEN. Es gibt Kriminalfälle, die noch viele Jahre später die Gemüter bewegen. In einer neuen Serie behandeln CN und NEZ diese aufsehenerregenden Fälle.
Das Rätsel der "Disco-Mädchen" zählt sicherlich dazu. Sieben junge Frauen verschwanden zwischen 1977 und 1986 im Elbe-Weser-Dreieck. Nur eine tauchte wieder auf: Irene Warnke wurde tot in einem Graben bei Bederkesa entdeckt. Von den anderen sechs fehlt noch immer jede Spur. Ein Kapitel, das den pensionierten Kriminaldirektor Eckard Neupert bis heute nicht ruhen lässt.
Manchmal, wenn Eckard Neupert die Augen schließt, kommen die Bilder wieder: Die Gesichter der vermissten Tramperinnen, die verzweifelten Augen der Eltern, die Niedergeschlagenheit der Kollegen, die unzähligen Verhöre und vergeblichen Ermittlungen. "Jedes Mal, wenn ich an diese Fälle denke und darüber spreche, fange ich an zu frieren", sagt der 77-jährige Stoteler. Eine Frage quält ihn dabei immer wieder: Habe ich genug getan?
Die unheimliche Serie beginnt am 7. Oktober 1977. Die 16-jährige Anja Beggers, Realschülerin aus Midlum, macht sich gegen 21 Uhr mit ihrem Freund auf den Weg nach Bremerhaven - in die Diskothek "Moustache". "Bleib nicht so lange weg", ruft die Mutter ihr noch zu. Doch Anja Beggers kehrt nicht zurück. Keine Spuren, keine Zeugen, nichts.
Die Mutter ahnt schnell: Es muss etwas Schlimmes passiert sein. Unzufrieden mit den Bemühungen der Polizei, macht sich die Midlumerin selbst auf die Suche nach ihrer Tochter. Sie erkundet üble Kaschemmen und Kneipen in Bremerhaven, recherchiert im Drogen-Milieu, in Diskotheken und Jugendzentren. Sie fährt zum ZDF in Wiesbaden und bittet die Fernsehchefs, ein Foto ihrer verschollenen Tochter anstelle von Werbung zu senden - ihr Ansinnen wird abgelehnt. Die Mutter reist nach Berlin, Marokko und Belgien, um Anja zu finden. Vergeblich.
Immer wieder erhalten die Eltern Hinweise. Jemand will Anja mit Türken in Bremen gesehen haben, ein anderer als Prostituierte in einem Bordell. Allen Hinweisen geht die Mutter nach. Überall fährt sie hin und verteilt ihre Handzettel: "Wo ist dieses Mädchen?" Auch in der DDR geht die verzweifelte Mutter auf die Suche. Als sie der Volkspolizei von ihrem Vorhaben berichtet, wird sie zunächst hinter Gitter gebracht.
Eine erste richtige Spur glaubt die Kripo zu haben, als ein zehnjähriger Junge und sein Vater im Frühjahr 1978 auf der Herren-Toilette der Autobahnraststätte Hamburg-Stillhorn ein Papierhandtuch mit der Aufschrift: "Ich brauche Hilfe, Anja!" finden. Aber die Ermittlungen laufen ins Leere. Am 12. Juli 1979 taucht Anja angeblich in einem Münchener Sex- Shop in Begleitung mehrerer junger Leute auf. Die ebenfalls aus Midlum stammende Verkäuferin lässt sich die Ausweise der noch recht jung wirkenden Kunden zeigen. Dabei fällt ihr bei der jungen Frau der Midlumer Gemeindestempel im Personalausweis auf. Doch ehe die alarmierte Polizei eintrifft, ist die Gruppe auch schon wieder verschwunden. Aus heutiger Sicht bezeichnet Neupert diese Hinweise als "Quatsch": "Sie haben uns in keiner Weise weitergeführt."
Acht Monate nach dem mysteriösen Verschwinden von Anja Beggers: Am 7. Juni 1978 will die 18-jährige Sahlenburgerin Angelika Kielmann nach einem Besuch der Diskothek "Container" in der Nordersteinstraße per Anhalter nach Hause fahren. Zuletzt wird die Konditorei-Mitarbeiterin an der Kreuzung Abendrothstraße/Westerwischweg gesehen. Ist sie zu ihrem Mörder ins Auto gestiegen? Auch von ihr gibt es bis heute kein Lebenszeichen.
Ein Jahr später, am 16. Mai 1979, tanzt die 18-jährige Anke Streckenbach aus Altenwalde in der Diskothek "Container". Gegen 23.30 Uhr verlässt die angehende Kindergärtnerin die bei jungen Leuten beliebte Disco und begibt sich zu Fuß in Richtung Hauptfeuerwehrwache. Versucht sie, per Anhalter nach Altenwalde zu gelangen? Dort kommt sie jedenfalls nicht an. Anke Streckenbach taucht nie wieder auf.
"Die Gemeinsamkeit der drei Fälle ist offensichtlich", sagt Eckard Neupert und blättert in alten Zeitungsartikeln. Alle drei Mädchen verkehren in Diskotheken in Cuxhaven und Bremerhaven. Sie alle haben schulterlanges Haar, in der Mitte gescheitelt. Ihre Vornamen beginnen mit A. Keines der Mädchen hatte einen Grund, von zu Hause auszubüxen. Und sie alle haben offenbar versucht, per Anhalter nach Hause zu kommen.
Steckt hinter den drei Fällen also ein und derselbe Täter? "Ich weiß es nicht, aber der Gedanke drängt sich geradezu auf", meint Neupert. Der frühere Dienststellenleiter des einstigen Kriminalkommissariats Wesermünde kennt die Eckdaten zu den Fällen immer noch auswendig. Und er erinnert sich noch genau an die beschwerliche Ermittlungsarbeit: "Wir haben unzählige Verdächtige verhört, Diskotheken und Tramperplätze observiert. Aus purer Verzweiflung haben wir uns sogar auf eine Hellseherin eingelassen. Doch gefunden haben wir nichts."
Im August 1979 wendet sich die Kripo an die Redaktion der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY … ungelöst". Ein Fahndungsfilm wird gedreht und im Dezember 1979 ausgestrahlt. Nicht nur bei der Polizei klingelt nach der Sendung mit Eduard Zimmermann das Telefon, auch die Familie Beggers in Midlum bekommt zahlreiche Anrufe, als bekannt wird, dass sie für das Auffinden ihrer Tochter eine Belohnung von 20 000 Mark bereitgestellt hat.
In anonymen Anrufen und Briefen erfährt die Familie in dieser Zeit die Bösartigkeiten und Gemeinheiten einiger Mitmenschen, die sich an dem Unglück des Ehepaars ergötzen.
Es ist nicht auszuschließen, dass noch weitere ungeklärte Fälle auf das Konto des Täters oder der Täter gehen:
Am 30. November 1980 verschwindet Andrea Martens. Die 19-Jährige taucht nach einem Besuch bei ihrem Freund in der früheren US-Kaserne in Garlstedt nicht wieder auf. Eckard Neupert: "Wir verfolgten diesen Fall bis in die USA, ließen von FBI-Beamten den Freund vernehmen. Er hatte ein wasserdichtes Alibi."
Am 13. August 1982 macht sich Christina Bohle (15) mit ihrer Mutter Barbara und dem Bruder auf den Weg in die Diskothek "Kasba" in Heerstedt. Sie ist verliebt, will ihren Schwarm treffen. Um Mitternacht verabschieden sich Mutter und Bruder. Zeugen sehen Christina zuletzt gegen 2 Uhr im Garten der Disco. Seitdem fehlt jede Spur.
Am 13. Juni 1986 trampt die 24-jährige Loxstedterin Jutta Schneefuß an der B6 von Stotel nach Bremerhaven und verschwindet spurlos. Sie hinterlässt eine Tochter.
Am 24. August 1986 ist die 19-jährige Abiturientin Irene Warnke aus Ringstedt auf einem einsamen Feldweg unterwegs zur Diskothek "Momo" in Bederkesa. Der Täter schlägt sie von hinten nieder. Doch er wird offenbar gestört, stößt das bewusstlose Mädchen in einen Graben. Sie ertrinkt im Schlamm unter Entengrütze. Ihre Leiche wird am 3. September 1986 gefunden. Danach reißt die Serie ab.
Auch 40 Jahre nach dieser unheimlichen Tatserie gibt Eckhard Neupert die Hoffnung nicht auf, dass die Fälle eines Tages aufgeklärt werden. "Damit das Leiden für alle endlich ein Ende hat." Die Ungewissheit sei das Schlimmste für die Angehörigen, sagt der 77-Jährige. Ein Grab, das man besuchen könne, gebe ja wenigstens Trost. "Aber so entwickeln viele eine lebhafte Fantasie, stellen sich vor, dass ihr Kind jahrelang unter Drogen gehalten und gequält wird oder irgendwo wie ein Hund verbuddelt liegt."
Dass die Medien an die verschwundenen Mädchen erinnern, findet er richtig und wichtig. "Vielleicht meldet sich nach all der Zeit noch ein Zeuge."
Glaubt er, dass die verschollenen Frauen noch leben? "Nein, sie sind tot. Wenn nur eine der Frauen noch leben würde, hätte sie sich doch längst gemeldet."
Eines steht mit Sicherheit fest: Endgültig geschlossen werden die Akten nicht. Die Polizei geht von Mordfällen aus. "Und Mord verjährt nie", sagt Anke Rieken, Sprecherin der Polizei in Cuxhaven.
Ein Blick in die Statistik zeigt: Mehr als 95 Prozent der Tötungsdelikte in Niedersachsen konnte die Polizei in den vergangenen Jahren klären. Also fast jeden Fall. Aber eben nur fast.
Neu aufgerollt:
Keine Spur, keine Täter, keine Leiche: Im Landkreis Cuxhaven gibt es Kriminalfälle, die nach jahrelangen Ermittlungen immer noch nicht aufgeklärt sind. Es sind ebenso schreckliche wie aufsehenerregende Fälle, mit denen sich die Ermittler in der Region befasst haben. Vielen sind die unfassbaren Taten noch in Erinnerung. In der neuen CN/NEZ-Serie "Neu aufgerollt" wollen wir an diese spektakulären Kriminalfälle erinnern.
Was sind eigentlich "Cold Cases"?
Die Polizei findet eine Leiche, vom Täter fehlt aber jede Spur - auch nach Jahren noch. "Cold Cases" sind "ungeklärte Fälle", bei denen die Polizei nicht weiter weiß, die aber auch nicht einfach abgehakt werden können, weil die Verbrechen schwer wiegen. Das gilt neben Mord- und Totschlagsfällen auch für sogenannte Langzeitvermisste wie Anke Streckenbach, Angelika Kielmann und Anja Beggers, bei denen die Ermittler von einem Gewaltverbrechen ausgehen, aber keine Leiche gefunden haben.
Im Bundesland Niedersachsen gibt es laut Landesregierung mehr als 300 ungeklärte schwere Straftaten. Die Opferhilfe "Weißer Ring" fordert mehr Personal und Ressourcen zur Aufklärung dieser "Cold Cases". Denkbar sei eine neue Einheit beim Landeskriminalamt.