Nach mehreren Monaten des Hoffens und Bangens ist Eva Müller inzwischen zweifach gegen das Corona-Virus (Covid-19) geimpft. Foto: Pixabay
Nach mehreren Monaten des Hoffens und Bangens ist Eva Müller inzwischen zweifach gegen das Corona-Virus (Covid-19) geimpft. Foto: Pixabay
Corona im Kreis Cuxhaven

Die Vergessenen der Pandemie: Für sie beginnt durch die Lockerungen ein Albtraum

02.04.2022

KREIS CUXHAVEN. Trotz der hohen Infektionszahlen entfallen ab Sonntag fast alle Corona-Regeln. Für einen Teil der Bevölkerung könnte sich die Lage dadurch erheblich zuspitzen. 

Am 23. Juni hatte Eva Müller das erste Mal Todesangst. Dabei hätte es für sie so ein schöner Frühsommertag werden können, ja werden sollen: Damals, es war ein Mittwoch. Die Sonne schien, am Himmel waren keine Wolken zu sehen. Endlich, dachte sie, endlich würde sie ihr lang ersehntes "Ticket in die Freiheit" bekommen. Sie meinte damit ihre Corona-Schutzimpfung. 15 Minuten, schätzt Müller, habe sie in einer Kabine im Impfzentrum Cuxhaven gesessen. Es waren 15 Minuten, die ihr Leben verändert haben, zumindest vorübergehend. 

Schockmoment im Impfzentrum

Es war dunkel in der Kabine, berichtet Müller. Tageslicht drang kaum hinein. Ein Arzt teilte ihr mit, dass sie vor Ort nicht geimpft werden könne. Draußen schien weiterhin die Sonne vom Himmel, doch in dem Augenblick ging sie für Müller unter. Und das für lange Zeit. Eva Müller ist damals 28 Jahre alt, in der "Blüte ihres Lebens", wie sie selbst sagt. Was für Außenstehende nicht sichtbar ist: Eva Müller ist gesundheitlich schwer angeschlagen. Sie hat eine chronische Erkrankung. Ein Immunsystem, das durch Medikamente unterdrückt wird. Und Allergien, auch gegen Medikamente. Im Raum steht eine mögliche Kreuzallergie gegen Polyethylenglykol (PEG), einem wesentlichen Inhaltsstoff der mRNA-Impfstoffe etwa von Biontech oder Moderna. Eine Impfung käme dann wohl nicht infrage. Und Müller ist damit kein Einzelfall, bei weitem nicht. Auch andere Allergiker haben Sorge, dass sie allergisch auf PEG reagieren könnten. Daher will Müller ihren richtigen Namen (ist der Redaktion bekannt) nicht in der Öffentlichkeit preisgeben und stattdessen mit ihrer Geschichte allen anderen, denen es ähnlich geht, eine Stimme geben.

Die Vergessenen der Pandemie

Obwohl sich die Zahl der Neuinfektionen mit Covid-19 derzeit auf einem Rekord-Niveau bewegt, sind die Länder per Gesetz dazu angehalten, heute nahezu alle Corona-Regelungen auf einen Schlag auslaufen zu lassen. Dabei ist ein erheblicher Teil der Bevölkerung noch immer ungeimpft, von einer Herdenimmunität kann weiter keine Rede sein. Es ist ein zweischneidiges Schwert: So sehr sich die meisten Bürgerinnen und Bürger sehnsüchtig nach Lockerungen sehnen, so sehr könnte sich dadurch die Lage für chronisch Kranke, Immunkranke und Allergiker zuspitzen. Sie gehören zu den Vergessenen der Pandemie.

Zweijährige Leidenszeit

Die Leidenszeit von Eva Müller beginnt vor gut zwei Jahren. Als die ersten Nachrichten aus China von einem neuartigen und für den Menschen gefährlichen Virus eintreffen, isoliert sich Eva Müller umgehend. "Ich ahnte sofort, dass da eine riesige Katastrophe auf uns zurollt", sagt sie. "Mir war, als würde ich innerlich die Luft anhalten." Sie reduziert ihre Kontakte drastisch, sieht selbst engste Familienangehörige nicht - noch bevor der erste bestätigte Fall in Deutschland gemeldet wurde. Das sei für sie zunächst nichts Ungewöhnliches gewesen. "Das habe ich zuvor auch in der Erkältungszeit gemacht, allerdings nie so lange." Dieses Mal dauert die Isolation - mit wenigen Unterbrechungen - über zwei Jahre an. "Das hat Spuren hinterlassen." Müller ist eine lebenslustige Frau, hat gern Menschen um sich herum und will zahlreiche Länder der Welt bereisen. Daran hat sich durch die Pandemie nichts geändert. "Aber die Unbekümmertheit ist weg", sagt sie. Stattdessen ist die Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19 ihr ständiger Begleiter. Niemand könne versichern, dass sie ohne Impfung eine Corona-Infektion überlebt. "Es wäre schrecklich aus der Blüte meines Lebens gerissen zu werden", sagt Müller. "Vor allem meinen Liebsten möchte ich diesen Verlust nicht antun."

Demütiger durch die Pandemie

Ihre größte Sorge sei aber nicht der Tod, sondern mit den Langzeitfolgen einer Infektion (Long-Covid) leben zu müssen und dadurch stark beeinträchtigt zu sein. "Ich habe Angst davor, dann ein Leben führen zu müssen, das für mich nicht mehr lebenswert ist." Für Müller bedeutet dies, nicht mehr selbstbestimmt zu sein, ihren Alltag nicht mehr allein meistern zu können, dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Die Pandemie habe sie demütiger gemacht. "Jeder Atemzug, jeder Herzschlag ist ein Geschenk, für das ich unendlich dankbar bin."

Nicht nur milde Verläufe

"Ohne Impfung wäre ich jetzt vielleicht tot." Diese Nachricht erhielt Eva Müller vor wenigen Wochen von einer Freundin. Sie hatte keine bekannten Vorerkrankungen, steckte sich mit Corona an, bekam starke Symptome. Seit der Infektion kämpft sie mit Folgeschäden. Das macht Müller skeptisch. "Es erscheint mir grob fahrlässig, dass die Inzidenz derzeit höher denn je ist, aber weitere Lockerungen geplant sind." Gerade für besonders gefährdete Menschen wie Müller berge dies enorme Risiken. "Wir sind die Leidtragenden dieser Lockerungen." Von Erstgenannten gebe es sehr viele, vermutet Müller.

Keine offiziellen Zahlen bekannt

Wie viele genau, ist unklar und weiß wohl niemand. Nicht das Robert-Koch-Institut. Nicht das Paul-Ehrlich-Institut. Nicht die Kassenärztlichen Vereinigungen als Vertreter der niedergelassenen Ärzte. Nicht der Niedersächsische Inklusionsrat. Nicht der Landesbehindertenbeirat. Und auch nicht das Gesundheitsamt. "In unserem dezentralen Gesundheitssystem werden solche Zahlen leider nicht zusammenhängend erfasst", sagt eine Sprecherin.

Hunderte auf der Warteliste 

Allein in der Allergologie der Uni-Klinik Münster stehen derzeit nach Angaben von Oberarzt Prof. Dr. Randolf Brehler Hunderte Patienten auf der Warteliste, um sich im Vorfeld einer Corona-Schutzimpfung testen zu lassen. "Die Wartezeit beträgt derzeit bis zu einem Jahr." Das liege zum einen daran, so Brehler, dass der personelle Aufwand für solche Tests hoch sei - weshalb sie zumeist lediglich von allergologischen Zentren an Kliniken angeboten werden. Und dies auch nicht von allen. Teilweise würden die Patienten daher Hunderte Kilometer Anfahrt in Kauf nehmen. "Viele Allergiker sind verunsichert, zumal gerade zu Beginn der Kampagne über allergische Reaktionen berichtet wurde."

Aufklärung steht an erster Stelle

Die mRNA-Impfstoffe enthalten potenzielle Allergene, die in anderen Impfstoffen nicht enthalten sind. "Wer in der Vergangenheit auf eine Impfung reagiert hat, weist in der Regel kein erhöhtes Risiko für eine allergische Reaktion auf eine Corona-Impfung auf." Das zeige die Erfahrung. Dies sei aber zweitrangig, wenn die Sorgen vor möglichen Impf-Reaktionen gerade Allergiker abschrecken. "Es ist schwer, dies aus den Köpfen herauszubekommen, gerade wenn Meldungen durch die Medien geistern und den Leuten Angst machen." Für Brehler stehen Aufklärung und Testen daher an erster Stelle.

Insofern sei es ein Fehler gewesen, zum Start der Impf-Kampagne nicht flächendeckend Allergologen in die lokalen Impfzentren zu entsenden, sagt Brehler. "Es wurde versäumt, für diese Personen adäquate Möglichkeiten zu schaffen." Diese Personen, sie wurden so zu den Vergessenen der Pandemie.

"War vom Bedarf überrascht"

Ähnliche Erfahrungen wie in Münster macht auch das Elbe-Klinikum Buxtehude. "Hier kommen pro Monat etwa 20 Patienten, um sich vor ihrer Erstimpfung testen zu lassen", berichtet Dr. Andreas Kleinheinz, Chefarzt und Ärztlicher Direktor am Dermatologischen Zentrum des Krankenhauses. "Von dem Bedarf war ich überrascht."

Großes Einzugsgebiet

Mit dem Klinikum Bremerhaven bietet eine weitere Klinik in der Region solche Allergie-Tests vor Corona-Impfungen an. Und davon machen nicht nur Einheimische Gebrauch: "Das Einzugsgebiet unserer Hautklinik erstreckt sich über Cuxhaven, Bremen, Oldenburg bis nach Wilhelmshaven", berichtet Dr. Michael Sachse, Chefarzt der Klinik für Dermatologie, Allergologie und Phlebologie. Seit November 2021 biete die Klinik Testungen bei Patienten an, die bei niedergelassenen Ärzten oder im Impfzentrum keine Covid-19-Impfung erhalten. "Die Nachfrage hat in den letzten Wochen etwas nachgelassen, jedoch erhalten wir jede Woche immer noch 5 bis 10 Anfragen." Die meisten von ihnen seien später unter Beobachtung in der Klinik geimpft worden.

Zwischen Hoffen und Bangen

Inzwischen ist auch Eva Müller geimpft. Bis dahin sind seit jenem Mittwoch im Juni, an dem für Müller ihre Welt zusammenbrach, sieben Monate vergangen. Es waren lange sieben Monate, voller Hoffen und Bangen. Allein schon deshalb wird sie den Moment, als die Nadel in ihre Haut sticht, wohl nie vergessen. Dass aus ihrem Wunsch Wirklichkeit wurde, sei für sie nach dieser langen Zeit der Ungewissheit zunächst nicht greifbar gewesen, sagt Müller. Und dennoch ist ihre Angst vor möglichen Folgeschäden einer Corona-Infektion seitdem nicht weg.

Wettlauf mit dem Tod

Das Dilemma bleibt: Entweder läuft sie Gefahr, durch die soziale Isolation ihre seelische Gesundheit aufs Spiel zu setzen oder durch Kontakte zu anderen Menschen das Risiko einer Infektion mit nicht absehbaren Folgen einzugehen. "Mein Leben und das anderer Betroffener wird wahrscheinlich nie wieder so sein, wie es vor der Pandemie war." Es bleibt für Eva Müller auch künftig ein Abwägen von Risiken, vom Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Sicherheit. Für viele andere, die nach wie vor nicht geimpft sind, ist es weiterhin wie ein Wettlauf mit dem Tod - mit ungewissem Ausgang.

Wie hat Ihnen der Artikel gefallen?

(1 Stern: Nicht gut | 5 Sterne: Sehr gut)

Feedback senden

CNV-Nachrichten-Newsletter

Hier können Sie sich für unseren CNV-Newsletter mit den aktuellen und wichtigsten Nachrichten aus der Stadt und dem Landkreis Cuxhaven anmelden.

Die wichtigsten Meldungen aktuell


Lesen Sie auch...
Gesundheit

Neue Gruppe in Otterndorf: Selbsthilfe für Krebspatienten im Kreis Cuxhaven

von Wiebke Kramp

KREIS CUXHAVEN. Christiane Steffens (65) aus Otterndorf möchte Krebspatienten Mut machen. Ihnen soll der Rücken gestärkt werden, sich gegenseitig zu stützen und Austausch zu pflegen.

Am 12. November ist es soweit

Musicalsongs im Programm der Cuxhavener Sportgala

von Herwig V. Witthohn

CUXHAVEN. Sport und Kultur vereint - dass dies passt haben die Besucherinnen und Besucher der Cuxhavener Sportgala schön öfter erkennen können. Und auch bei der Gala am 12. November, 19 Uhr wird es wunderbare Songs zu hören geben.

Erstaufnahme-Einrichtungen

Wird die Kaserne in Cuxhaven eine Sammelunterkunft für Geflüchtete?

CUXHAVEN. Angesichts der steigenden Zahl an Schutzsuchenden in Niedersachsen will das Land weitere Sammelunterkünfte schaffen.

Mittelfinger gezeigt?

Nach umstrittener Geste: Verfahren gegen Cuxhavener Politiker Wegener eingestellt

von Kai Koppe

CUXHAVEN. Ein mutmaßlicher "Stinkefinger" gegen einen Querdenker-Aufzug hat für den Cuxhavener SPD-Politiker Gunnar Wegener kein gerichtliches Nachspiel.