
Die Vergessenen der Pandemie: Für sie beginnt durch die Lockerungen ein Albtraum
KREIS CUXHAVEN. Trotz der hohen Infektionszahlen entfallen ab Sonntag fast alle Corona-Regeln. Für einen Teil der Bevölkerung könnte sich die Lage dadurch erheblich zuspitzen.
Obwohl sich die Zahl der Neuinfektionen mit Covid-19 derzeit auf einem Rekord-Niveau bewegt, sind die Länder per Gesetz dazu angehalten, heute nahezu alle Corona-Regelungen auf einen Schlag auslaufen zu lassen. Dabei ist ein erheblicher Teil der Bevölkerung noch immer ungeimpft, von einer Herdenimmunität kann weiter keine Rede sein. Es ist ein zweischneidiges Schwert: So sehr sich die meisten Bürgerinnen und Bürger sehnsüchtig nach Lockerungen sehnen, so sehr könnte sich dadurch die Lage für chronisch Kranke, Immunkranke und Allergiker zuspitzen. Sie gehören zu den Vergessenen der Pandemie.
Zweijährige Leidenszeit
Die Leidenszeit von Eva Müller beginnt vor gut zwei Jahren. Als die ersten Nachrichten aus China von einem neuartigen und für den Menschen gefährlichen Virus eintreffen, isoliert sich Eva Müller umgehend. "Ich ahnte sofort, dass da eine riesige Katastrophe auf uns zurollt", sagt sie. "Mir war, als würde ich innerlich die Luft anhalten." Sie reduziert ihre Kontakte drastisch, sieht selbst engste Familienangehörige nicht - noch bevor der erste bestätigte Fall in Deutschland gemeldet wurde. Das sei für sie zunächst nichts Ungewöhnliches gewesen. "Das habe ich zuvor auch in der Erkältungszeit gemacht, allerdings nie so lange." Dieses Mal dauert die Isolation - mit wenigen Unterbrechungen - über zwei Jahre an. "Das hat Spuren hinterlassen." Müller ist eine lebenslustige Frau, hat gern Menschen um sich herum und will zahlreiche Länder der Welt bereisen. Daran hat sich durch die Pandemie nichts geändert. "Aber die Unbekümmertheit ist weg", sagt sie. Stattdessen ist die Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19 ihr ständiger Begleiter. Niemand könne versichern, dass sie ohne Impfung eine Corona-Infektion überlebt. "Es wäre schrecklich aus der Blüte meines Lebens gerissen zu werden", sagt Müller. "Vor allem meinen Liebsten möchte ich diesen Verlust nicht antun."
Demütiger durch die Pandemie
"Ohne Impfung wäre ich jetzt vielleicht tot." Diese Nachricht erhielt Eva Müller vor wenigen Wochen von einer Freundin. Sie hatte keine bekannten Vorerkrankungen, steckte sich mit Corona an, bekam starke Symptome. Seit der Infektion kämpft sie mit Folgeschäden. Das macht Müller skeptisch. "Es erscheint mir grob fahrlässig, dass die Inzidenz derzeit höher denn je ist, aber weitere Lockerungen geplant sind." Gerade für besonders gefährdete Menschen wie Müller berge dies enorme Risiken. "Wir sind die Leidtragenden dieser Lockerungen." Von Erstgenannten gebe es sehr viele, vermutet Müller.
Keine offiziellen Zahlen bekannt
Wie viele genau, ist unklar und weiß wohl niemand. Nicht das Robert-Koch-Institut. Nicht das Paul-Ehrlich-Institut. Nicht die Kassenärztlichen Vereinigungen als Vertreter der niedergelassenen Ärzte. Nicht der Niedersächsische Inklusionsrat. Nicht der Landesbehindertenbeirat. Und auch nicht das Gesundheitsamt. "In unserem dezentralen Gesundheitssystem werden solche Zahlen leider nicht zusammenhängend erfasst", sagt eine Sprecherin.
Hunderte auf der Warteliste
Die mRNA-Impfstoffe enthalten potenzielle Allergene, die in anderen Impfstoffen nicht enthalten sind. "Wer in der Vergangenheit auf eine Impfung reagiert hat, weist in der Regel kein erhöhtes Risiko für eine allergische Reaktion auf eine Corona-Impfung auf." Das zeige die Erfahrung. Dies sei aber zweitrangig, wenn die Sorgen vor möglichen Impf-Reaktionen gerade Allergiker abschrecken. "Es ist schwer, dies aus den Köpfen herauszubekommen, gerade wenn Meldungen durch die Medien geistern und den Leuten Angst machen." Für Brehler stehen Aufklärung und Testen daher an erster Stelle.
Insofern sei es ein Fehler gewesen, zum Start der Impf-Kampagne nicht flächendeckend Allergologen in die lokalen Impfzentren zu entsenden, sagt Brehler. "Es wurde versäumt, für diese Personen adäquate Möglichkeiten zu schaffen." Diese Personen, sie wurden so zu den Vergessenen der Pandemie.
"War vom Bedarf überrascht"
Ähnliche Erfahrungen wie in Münster macht auch das Elbe-Klinikum Buxtehude. "Hier kommen pro Monat etwa 20 Patienten, um sich vor ihrer Erstimpfung testen zu lassen", berichtet Dr. Andreas Kleinheinz, Chefarzt und Ärztlicher Direktor am Dermatologischen Zentrum des Krankenhauses. "Von dem Bedarf war ich überrascht."
Großes Einzugsgebiet
Mit dem Klinikum Bremerhaven bietet eine weitere Klinik in der Region solche Allergie-Tests vor Corona-Impfungen an. Und davon machen nicht nur Einheimische Gebrauch: "Das Einzugsgebiet unserer Hautklinik erstreckt sich über Cuxhaven, Bremen, Oldenburg bis nach Wilhelmshaven", berichtet Dr. Michael Sachse, Chefarzt der Klinik für Dermatologie, Allergologie und Phlebologie. Seit November 2021 biete die Klinik Testungen bei Patienten an, die bei niedergelassenen Ärzten oder im Impfzentrum keine Covid-19-Impfung erhalten. "Die Nachfrage hat in den letzten Wochen etwas nachgelassen, jedoch erhalten wir jede Woche immer noch 5 bis 10 Anfragen." Die meisten von ihnen seien später unter Beobachtung in der Klinik geimpft worden.
Zwischen Hoffen und Bangen
Inzwischen ist auch Eva Müller geimpft. Bis dahin sind seit jenem Mittwoch im Juni, an dem für Müller ihre Welt zusammenbrach, sieben Monate vergangen. Es waren lange sieben Monate, voller Hoffen und Bangen. Allein schon deshalb wird sie den Moment, als die Nadel in ihre Haut sticht, wohl nie vergessen. Dass aus ihrem Wunsch Wirklichkeit wurde, sei für sie nach dieser langen Zeit der Ungewissheit zunächst nicht greifbar gewesen, sagt Müller. Und dennoch ist ihre Angst vor möglichen Folgeschäden einer Corona-Infektion seitdem nicht weg.
Wettlauf mit dem Tod