
Der Autor, der Irrtum, mein Opa und ich
Journalisten leben meistens im Moment. Das eben Geschehene, die Gegenwart oder die unmittelbare Zukunft sind in der Regel die Währung von Nachrichten, selten schweift der Blick weit zurück.
Auch die intensive und umfassende Beschäftigung mit einem Thema zählt - zumindest für Tageszeitungsjournalisten - nicht zwingend zur Kernkompetenz. Hätten wir das Archiv nicht, würden etliche wichtige Informationen im Tagesgeschäft vermutlich auf der Strecke bleiben. Man könnte das auch eine berufsbedingte Deformation nennen. Und ich beziehe mich da ausdrücklich mit ein.
Die Art und Weise, wie ich beruflich Informationen verarbeite, hat natürlich auch Auswirkungen auf mein privates Verhalten. Bücher lese ich meistens nur im Urlaub, und dann eher seltener Romane, häufiger Sachbücher und Biografien. Stattdessen bestimmen Zeitschriftenartikel und natürlich die Apps verschiedener Medienhäuser auf dem Smartphone meinen regelmäßigen Konsum. Ich habe das Gefühl, dass ich von Jahr zu Jahr weniger Geduld - und ich rede mir ein, auch weniger Zeit - habe, um mich in aller Ruhe hinzusetzen und ein Buch zu lesen.
Schon gar keines über eine historische Familiengeschichte. Und das sollte sich beinahe rächen. Im April erhielt ich eine E-Mail von einem Autor, der gerade einen Roman namens "Osterende" veröffentlicht hatte. Die Geschichte spielte in den Jahren zwischen 1939 und 1951, zunächst in Westpreußen und später in Otterndorf und Altenbruch. Es geht um das Schicksal zweier Familien, die durch den Verlauf der Weltgeschichte - den Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen - zusammengeführt werden. Vor dem historischen Hintergrund entwickelt sich das spannungsreiche Beziehungsgeflecht dieser Familien. Eine typisch deutsche Geschichte zur Mitte des 20. Jahrhunderts, geprägt von Krieg, Vertreibung und Wiederaufbau.
Und ich - Esel - fand einfach keinen Zugang dazu und ließ das Thema links liegen. Der Autor, Uli Flessel, ein Pseudonym, hatte um eine Rezension gebeten, um seinen Romanerstling in dieser Region bekannt zu machen. Ich ignorierte die Bitte. Noch so ein heimatgeschichtlicher Roman, dachte ich. Wen interessiert denn so etwas?
Ich sollte mich kolossal täuschen. Vor allem, weil sich herausstellte, dass mich das Buch persönlich betraf. Aber bis zu dieser Erkenntnis mussten noch einige Monate verstreichen. Zufällig fand ich mich im August bei einer Veranstaltung in Otterndorf neben ebenjenem Autor Uli Flessel, der in Wirklichkeit Ulrich Huse heißt, als Verlagslektor gearbeitet hat und emeritierter Professor an einer Hochschule in Stuttgart ist. Er war gekommen, um Auszüge aus seinem Roman, den ich nicht rezensiert hatte, zu lesen. Da Ulrich Huse ein dezenter und höflicher Mensch ist, ließ er mich kaum spüren, dass er mit mir noch ein Hühnchen zu rupfen hatte, nachdem ich mich ihm zu erkennen gab.
Osterende? Hätte es da nicht schon klingeln müssen?
Er erzählte, dass die Handlung seines Romans zwar fiktiv sei, aber authentisch, weil sie von Ereignissen aus seiner eigenen Familiengeschichte stark beeinflusst wurde. Und im Verlauf unseres Gesprächs stellte sich völlig überraschend heraus, dass seine Familie, die seiner Mutter und die seines Vaters, eines Flüchtlings, Nachbarn meiner Großeltern im Altenbrucher Osterende gewesen waren. Sie waren sogar Gäste der Hochzeit von Huses Eltern im Jahr 1950 gewesen. In einem rührenden, auf Teufel komm' 'raus gereimten Gedicht in der Hochzeitszeitung wurden einige der hervorstechendsten Eigenschaften meines Opas beschrieben, seine ständig qualmende Pfeife (so kurz nach dem Krieg noch mit selbst angebautem Tabak befüllt), die im Verhältnis zu seiner geringen Körpergröße riesigen Holzpantinen und seine Vorliebe für Ostfriesentee, denn er stammte aus Emden.
Und so wurde meine Familiengeschichte indirekt mit der des Romanautors verwoben. Man darf sich also durchaus vorstellen, wie peinlich berührt ich war, dass ich ausgerechnet in diesem Fall so ignorant gewesen war, die freundliche Bitte um eine Besprechung des Buches auszuschlagen und der hornochsigen Engstirnigkeit nachzugeben, die mit der Betriebsblindheit des Tageszeitungsjournalisten-Daseins gelegentlich einher geht. Ich habe dies nachgeholt und einige Tage nach unserer Begegnung Uli Flessels Roman "Osterende", erschienen im Duckdalben-Verlag mit Sitz in Cuxhaven, besprochen. Ich finde, er hat Aufmerksamkeit und eine breite Leserschaft verdient.