
Nach schwerem Unfall vor Cuxhaven-Duhnen: Wie gefährlich ist das Watt wirklich?
Immer wieder kommt es im Wattenmeer vor Cuxhaven zu Unfällen. Ist der Meeresboden zu gefährlich für touristische Aktivitäten? Sind Wattspaziergänger und Reiter zu leichtsinnig? Wattökologe Dr. Gregor Scheiffarth weist auf die Gefahren hin.
Nach einem Reitunfall im Watt vor Duhnen musste ein Pferd im Juni dieses Jahres eingeschläfert werden. Das Tier hatte sich im tiefen Schlick festgerannt und war zuletzt völlig entkräftet. Zehn Tage zuvor waren zwei Reiter auf dem Weg von Neuwerk nach Cuxhaven von ihren Pferden gestürzt. Auch in den Jahren davor kam es immer mal wieder zu tragischen Unfällen im Watt.
Herr Dr. Scheiffarth, ist das Watt unberechenbarer geworden?
Nein. Respekt vor dem Watt musste man schon immer haben. Und Ortskenntnis war schon immer überlebenswichtig für die Menschen an der Küste. Ich glaube eher, dass sich Vorfälle heute viel schneller über die sozialen Medien verbreiten. Ich sehe aber auch mehr und mehr eine gewisse Unbedarftheit bei den Menschen. Wir nutzen das Wattenmeer heute viel stärker touristisch. In Kombination mit einer stärkeren Unbedarftheit der Menschen im Umgang mit den Gefahren im Watt halte ich das für fatal.
Raten Sie davon ab, ins Watt zu gehen?
Auf keinen Fall. Niemand sollte es sich entgehen lassen, bei einer Wattwanderung dabei zu sein. Aber bitte: Wer ins Watt gehen will, sollte sich möglichst einer Wattführung anschließen. Wattführer sind ausgebildet und kennen ihr Revier. Darüber hinaus können sie einem die verborgene Welt des Wattbodens nahe bringen. Das Watt ist immer unberechenbar. Man muss das Wetter kennen, man muss wissen, wie sich ein Wetterumschwung ankündigt. Es ist nicht nur gefährlich im Schlick zu versacken; man kann auch in ein Gewitter geraten und dadurch in Lebensgefahr geraten. Oder das Wasser kann schneller auflaufen als am Tag zuvor, weil sich der Wind gedreht hat. All das erfordert einen Wahnsinnsrespekt vor dem Watt. Deswegen sollte niemand, der sich nicht auskennt, unbedarft ins Watt rauslaufen. Das ist im Übrigen vor 100 oder 200 Jahren schon genauso gewesen.
Ob im Watt vor Cuxhaven oder vor der Wurster Küste: Mal ist das Watt fester, mal extrem weich - wie kommen die unterschiedlichen Watttypen zustande?
Wir haben vor Cuxhaven und Land Wursten eine flache Meeresküste mit ganz vielen verschiedenen Strömungsbereichen und unterschiedlichem Welleneinfluss. Und wir haben immer Sand, Ton und Schlickteile in verschiedenster Größe, die vom Wasser bewegt werden. Je stärker die Bewegung ist, um so größere Sandkörner können transportiert werden. Wenn sich strömungsberuhigte Bereiche bilden, setzen sich diese verschieden großen Partikel ab. Je strömungsberuhigter dieser Bereich ist, um so feinere Partikel können sich am Boden absetzen. Die kleinsten von ihnen bilden das Schlickwatt, in das man recht tief einsinken kann.
Mit welcher Wattbeschaffenheit muss ich rechnen, wenn ich mitten im Watt eine Wiese sehe?
Mitten im Watt gibt es Seegraswiesen. Auf dem Weg von Cuxhaven nach Neuwerk findet man solche Flächen eigentlich nicht. Aber weit draußen vor der Wurster Küste. Je dichter so eine Seegraswiese wächst, desto strömungsberuhigter ist der Bereich und umso mehr feine Partikel können sich dort absetzen. Deshalb sind solche Seegraswiesen auch sehr schlickig. Dadurch wächst das Watt auf, wird also höher, und dadurch haben wir sehr weiche Wattbereiche. Diese sollten auf keinen Fall betreten werden, weil man darin tief einsinken kann und gleichzeitig den Lebensraum schädigen kann.
Das Pferd, das Mitte Juni nach einem Reitunfall eingeschläfert wurde, hatte sich im Gebiet der Neulandgewinnung zwischen Duhnen und Sahlenburg festgerannt. Sind solche Flächen mit Seegraswiesen vergleichbar?
Beim Duhner Anwachs hat man Lahnungsfelder zum Küstenschutz und zur Landgewinnung angelegt. Diese strömungsberuhigten Bereiche wurden bewusst geschaffen, weil man den Landanwachs fördern will. Auch hier wird das Wasser sehr stark beruhigt und dadurch sinken ganz feine Sedimente zu Boden. Deshalb hat man in Lahnungsfeldern einen sehr weichen Boden. Hier bildet sich eine Vegetation aus, die unter den extremen Bedingungen des Meer-Landübergangs leben kann. Solche Lahnungsfelder sollten auf keinen Fall betreten werden.
Das klingt, als wäre die Farbe Grün im Wattenmeer immer ein Warnsignal.
Es kommt darauf an. In einer Salzwiese, die an der Küste liegt, aber auch Bestandteil des Wattenmeeres ist, bedeutet das Grün, dass es einen festen Untergrund gibt. Dort kann ich laufen. Allerdings sollten die Salzwiesen im Nationalpark nur auf zugelassenen Wegen betreten werden. Unterhalb der Hochwasserlinie, also auf einer Seegraswiese oder in einem Lahnungsfeld, bedeutet Grün in der Regel: Dort könnte es schlickig sein.
Darf jeder Reiter mit seinem Tier im Watt reiten, oder bedarf es dafür besonderer Befähigungen?
Reiten ist auf zugelassenen Routen erlaubt, wovon im niedersächsischen Wattenmeer-Nationalpark lediglich die Route nach Neuwerk existiert. Der Wattweg von Duhnen bzw. Sahlenburg nach Neuwerk ist eine öffentliche Route, die jeder Reiter mit seinem Pferd - ohne besondere Befähigungsnachweise - benutzen darf.
Veränderungen im Watt werden seit geraumer Zeit deutlich mehr wahrgenommen. Inwieweit spielen Fahrrinnen-Vertiefungen, Schlickverklappungen oder der Klimawandel hierbei eine Rolle?
Es ist eine Mischung aus allem. Dass sich die Watten verändern, hängt mit den vorherrschenden Windrichtungen zusammen. Daneben gibt es einen Zusammenhang mit den Winterstürmen und wie viel feines Material im Winter wieder aufgewirbelt und weggetragen wird. Die Veränderungen hängen auch mit dem steigenden Meeresspiegel zusammen. Es spielt auch eine Rolle, wie wir die Küstenlinie vor dem Hintergrund des steigenden Meeresspiegels gestalten. Und: Wo sich Schlick und Sand absetzen und wie sich das Watt entwickelt, hängt auch mit den Veränderungen zusammen, die wir Menschen, etwa durch Fahrrinnen-Vertiefungen in der Elbe und in der Außenweser, verursacht haben. Hohe Strömungsgeschwindigkeiten in der Fahrrinne und eine Beruhigung in den Seitenbereichen, wo sich feines Sediment absetzen kann, wirken sich auch auf das Watt, beispielsweise vor der Wurster Küste aus. Es gibt aber auch, gerade in den hoch gelegenen Wattbereichen, die wir vor der Wurster Küste haben, natürlicherweise strömungsberuhigte Bereiche, wo sich Feinmaterial ablagert. Das kann sich von Jahr zu Jahr ändern. Das sehen wir auch in anderen Bereichen im Wattenmeer - wenn sich die Hauptwindrichtung etwas ändert. Jetzt kann man fragen, ob die Verteilung der Stürme, der Windrichtungen im Jahr noch natürlich oder schon eine Folge des Klimawandels sind. Auf jeden Fall spielt die Sturmverteilung im Jahr durchaus eine Rolle, wie sich die Sedimente in Küstennähe verteilen.
Von Heike Leuschner