Ein Balkon war in den 60er-Jahren bei vielen Wohnungen beileibe nicht selbstverständlich. Neubau aus dem Jahr 1968. Foto: Stadtarchiv, Foto Herzberg Cuxhaven
Ein Balkon war in den 60er-Jahren bei vielen Wohnungen beileibe nicht selbstverständlich. Neubau aus dem Jahr 1968. Foto: Stadtarchiv, Foto Herzberg Cuxhaven
Vielerorts unter Denkmalschutz

Ein berühmter Architekt steckt hinter den Alpha-Real-Estate-Wohnungen in Cuxhaven

von Maren Reese-Winne | 13.11.2024

Wenn auch der Zustand der Mehrfamilienhäuser zu wünschen übrig lässt und erst recht der Dialog mit der Vermieterin Alpha Real Estate: Eigentlich sind die Wohnungen in Süderwisch eine architektonische Perle, wie der Blick in die Vergangenheit zeigt.

Viele Alteingesessene wohnen gern im Stadtteil Süderwisch, auch in den Wohnungen, die heute der Alpha Real Estate gehören. Weitgehend unbekannt ist, dass es ein renommierter und vielfach preisgekrönter Architekt war, der die in den Jahren 1967-1970 errichteten Häuser geplant hat.

Zum Denkmalschutz hat es nicht gereicht, aber das Ensemble offenbart viele augenfällige Elemente: klare Linien, geometrische Formen, mit breiten Sprossen unterteilte Fenster. Der Kontrast ist besonders gut an der Nordseite des weit und breit einzigen Hochhauses mit den weißen Querriegeln zu erkennen. Serielles Bauen bedeutete noch lange keine Gleichförmigkeit.

Die Handschrift von Friedrich und Ingeborg Spengelin

Es ist die Handschrift von Friedrich Spengelin (1923-2016) und seiner Frau Ingeborg, die über Jahrzehnte eine  Bürogemeinschaft an wechselnden Orten bildeten. Beide gelten als hoch angesehene Fachleute des Siedlungsbaus, Spengelin war ab 1961 Professor an der Technischen Hochschule Hannover.

Trotz scheinbarer Gleichförmigkeit sind die Wohnungen im Viertel mit individuellen Details ausgestattet. Hier sind die Balkons bewusst nach Süden ausgerichtet. Fotos: Reese-Winne

Ab den 50er-Jahren stießen ihre Entwürfe für Wohn-, Amts- und Geschäftsgebäude in Hamburg auf große Anerkennung. Auch zahlreiche andere Städte und Gemeinden in Deutschland beauftragten das Büro mit städtebaulichen Gesamtplanungen. Ebenso entstanden Kirchen, Universitätsbauten, Warenhäuser, die Kunsthalle Emden und das NDR-Hochhaus in Hamburg-Lokstedt nach Spengelins Entwürfen.

Basierend auf Plänen des renommierten Architektenpaares entstand die gesamte Bebauung des John-Brinckman-Wegs.

Inspiriert durch die geraden Linien Skandinaviens

Inspiriert fühlte sich das Paar durch den geradlinigen Baustil Skandinaviens. Zu erkennen ist dies auch an vielen Stellen auf Helgoland. Das Paar beteiligte sich am Architektur-Wettbewerb zum Wiederaufbau der zerstörten Insel. Neben Reihenhäusern, Geschäften und Restaurants gehen das Rathaus (angelehnt an das Vorbild im dänischen Aarhus), Heizkraftwerk, Landungsbrücke, Musikmuschel, Kurhaus und Kurhotel sowie die Jugendherberge auf die Entwürfe des Paars zurück.

Die Jugendherberge (Haus der Jugend) auf Helgoland, geplant durch das Ehepaar Spengelin.

Ab 1961 in Cuxhaven

Bald folgten die ersten Aufträge in Cuxhaven: 1961 und 1962 in Westerwisch; 1961 und 1966 entstanden das Altersheim und Kurhospiz in der Marienstraße. Im Auftrag der Allianz-Versicherung folgte die Entwicklung eines ganzen Stadtviertels in Süderwisch, das zwischen 1967 und 1969 fertiggestellt wurde: Gebaut wurden lange, aber dafür flachere Häuser, ein Hochhaus und Reihenhäuser im John-Brinckman-Weg.

Tausende brauchten neuen Wohnraum

Ein Stadtviertel entsteht: Neubau aus dem Jahr 1968. Foto: Stadtarchiv, Foto Herzberg Cuxhaven

Cuxhaven, eine 60 000-Einwohner-Stadt, boomte in der Zeit. Soldatenfamilien in Cuxhaven und Altenwalde brauchten Wohnungen. Süderwisch war noch grüne Wiese.  Am 1. November 1966 vermeldete die Cuxhavener Zeitung "Freie Fahrt für Anlieger in Süderwisch". Die mehr als einen Kilometer lange Straße Süderwisch war noch eine unbeleuchtete Schotterpiste. Ein Foto zeigt einen einsamen R 4 zwischen Baugerüsten und halb fertigen Gebäuden. Erst kurz vor Weihnachten wurde die Verbindung offiziell freigegeben.

Neue Straßen - neue Namen

Am 21. Juni 1965 hatte der Rat die Namen für die neuen Straßen beschlossen: Angelehnt an das Dichterviertel (Brockesweg, Hebbelstraße, Theodor-Storm-Straße) sollten auch sie an Schriftsteller erinnern: Matthias Claudius, John Brinckman, Timm Kröger (Stichstraße in östlicher Richtung). Der Begriff "Süderwisch" geht auf den Flurnamen "Wisch" = Wiesen- und Weideland zurück, das sich südlich vom Schloss Ritzebüttel befand.

Große Grünflächen gehörten für die Planer dazu, um eine Bebauung zu komplettieren.

Die großzügigen und hellen Wohnungen mit den vielen Grünflächen dazwischen waren ruckzuck bezogen. Die kurzen Wege zu Innenstadt, Strand und Hafen, Krankenhaus und Hauptstraßen finden viele noch heute ideal. Die Mieterinnen und Mieter der ersten Stunde steuern auf die 90 Jahre zu. Viele schwärmen von den Jahren, in denen die Häuser noch der Allianz gehörten.

Viele ihrer Gebäude stehen heute unter Denkmalschutz

Heute teilen sich mehrere Vermietungsgesellschaften den Bestand. Zumindest für den Teil der Alpha Real Estate (vorher TAG Immobilien AG) ist der Investitionsstau nicht zu übersehen. Vor allem Leitungen und Rohre haben ihre besten Zeiten hinter sich.

Friedrich und Ingrid Spengelin starben 2015 und 2016. Zahlreiche von ihnen geplante Häuser stehen unter Denkmalschutz; seit 2023 auch das Kreishaus in Rotenburg. Die Akademie der Künste, deren Abteilung Baukunst Spengelin von 1989 bis 1997 leitete, zitiert ihn mit dem Satz: "Architektonische und städtebauliche Schönheit verlangt auf Dauer auch die erkennbare Erfüllung eines auf den Menschen bezogenen Zwecks." Einfach nur Wohnen statt wegziehen zu müssen, damit wäre vielen Bewohnern schon geholfen.

Abgestufte Gebäudehöhen im Matthias-Claudius-Weg/Brockesweg.
Große Grünflächen gehörten für die Planer dazu, um eine Bebauung zu komplettieren.

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Maren Reese-Winne

Redakteurin
Cuxhavener Nachrichten/Niederelbe-Zeitung

mreese-winne@no-spamcuxonline.de

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