Als 2010 die Breguet Atlantic außer Dienst gestellt wurde, nahm auch Jürgen Vietor an den Feierlichkeiten im Geschwader teil. Foto: privat
Als 2010 die Breguet Atlantic außer Dienst gestellt wurde, nahm auch Jürgen Vietor an den Feierlichkeiten im Geschwader teil. Foto: privat
Terror im Deutschen Herbst

Jürgen Vietor steuerte die entführte "Landshut" - vorher war er Pilot in Nordholz

von Maren Reese-Winne | 10.02.2024

Jürgen Vietor hat die entführte Lufthansa-Maschine "Landshut" auf der letzten Etappe ihres Irrflugs alleine gesteuert. Sein Kapitän war da schon tot. Wie hat ihm in diesen Tagen die Erfahrung auf der Breguet Atlantic im MFG 3 in Nordholz geholfen?

Er ist der Mann, der die entführte Lufthansa-Maschine "Landshut" auf der letzten Etappe des Irrflugs alleine gesteuert hat, von Aden nach Mogadischu. Hinten im Flugzeug wusste Pilot Jürgen Vietor die Leiche seines Flugkapitäns Jürgen Schumann, erschossen vor aller Augen im Gang der Boeing 737. Mehrere Male war er zuvor selbst mit dem Tod bedroht worden. Hat Jürgen Vietor in dieser Ausnahmesituation die militärische und fliegerische Erfahrung aus seiner Zeit beim MFG 3 in Nordholz geholfen? Das haben wir den heute 81-Jährigen gefragt.

Jürgen Vietor, der ehemalige Co-Pilot der "Landshut", am 23. September 2017 auf dem Flughafen von Friedrichshafen, als die Landshut als Fracht zweier russischer Transportmaschinen nach Deutschland zurückkehrte. Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Fliegen mit der Breguet Atlantic stellte ihre Besatzung vor einige Herausforderungen

Von 1968 bis 1973 ist Jürgen Vietor in Nordholz die Breguet Atlantic geflogen. "Die Breguet war damals ein tolles Flugzeug", erzählt er. Die darin verbauten Analog-Computer sei schon "eine Besonderheit" gewesen, die Navigation hingegen habe die Crew - allen voran den Tacco ("Tactical Coordinator") und den Navigator - reichlich beschäftigt. Das Flugzeug verdriftete mit der Zeit. In größeren Höhen musste dann das nächste Funkfeuer erwischt werden, um die Position wieder klar bestimmen zu können. "Die Fliegerei mit der Breguet Atlantic war sehr herausfordernd", berichtet Jürgen Vietor. "Wir haben bei jedem Wetter U-Boote, aber auch zum Beispiel vermisste Segler gesucht."

Sein erster Flug änderte sämtliche Karrierepläne

Dabei hatte seine Offizierslaufbahn eigentlich auf See begonnen, mit Einsätzen auf dem Segelschulschiff "Gorch Fock" und dem Schulschiff "Deutschland". Er besuchte die Marineschule Mürwik und wäre als Elektromechaniker wohl eines Tages auf einem Schiff mit der Betreuung der Elektronik beschäftigt gewesen. Wenn da nicht der Schnuppertag beim MFG 1 in Schleswig-Jagel mit einem Flug in der Do 27 - seinem ersten überhaupt - gewesen wäre. Jürgen Vietor war Feuer und Flamme: "Ich war so begeistert, dass ich direkt ein Gesuch zur Übernahme in die Fliegerei geschrieben habe."

In Neuenwalde gewohnt

Die fliegerische Grundausbildung absolvierte er 1966 im militärischen Zweig der Verkehrsfliegerschule der Lufthansa in Bremen und kam nach Vervollständigung der Ausbildung in Wunstorf am 24. Mai 1968 zum Marinefliegergeschwader 3 in Nordholz, wo er - zuletzt Kapitänleutnant - bis 1973 blieb. "Gewohnt haben wir in Neuenwalde", erzählt er. 

Jürgen Vietor wollte fliegen

"Ich war ein guter Soldat, die Marine hätte mich gern behalten", sinniert Jürgen Vietor, als er an die Entscheidung  zurückdenkt, die über seine berufliche Zukunft entschied: Fliegen oder Fortsetzung der militärischen Karriere? Letzteres hätte eine drastische Einschränkung der Fliegerei bedeutet. Aber Jürgen Vietor wollte fliegen. Er bestand die Prüfung bei der Lufthansa und zog nach dem Umschulungslehrgang nach Hessen.

Jürgen Vietor als Lufthansa-Kapitän - natürlich vor einer Boeing 737. Fotos: privat

Die Kurzstrecke hatte ihre Vorteile

Ab 1974 stieg er regelmäßig ins Cockpit seiner geliebten Boeing 737: "Während die Breguet Atlantic bis zu 20 Stunden in der Luft bleiben konnte, konnte ich in acht Stunden auf der Kurzstrecke fünfmal landen und starten", verrät er verschmitzt.

Als alles eskalierte: Unbeschwerter Urlaubsflug endete mit absoluter Grenzsituation

Ein unbeschwerter Urlaubsflug war auch zu erwarten, als am 13. Oktober 1977 in Palma de Mallorca 86 Passagiere und fünf Besatzungsmitglieder - unter ihnen Flugkapitän Jürgen Schumann und Co-Pilot Jürgen Vietor - die Lufthansa-Maschine "Landshut" betraten. Doch statt des geplanten Hüpfers nach Frankfurt kam es zu einer fünftägigen Odyssee, die als schrecklicher Höhepunkt des "Deutschen Herbstes" in die Geschichtsbücher einging.

Brodelnde Situation im Herbst 1977

Die Fahndungsplakate mit Portraits von Mitgliedern der "Rote-Armee-Fraktion" (RAF) sind eine prägende Erinnerung an die 70er-Jahre. Am 7. April 1977 waren Generalbundesanwalt Siegfried Buback mit zwei Begleitern, am 30. Juli der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, umgebracht worden. Seit dem 5. September befand sich Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer in der Gewalt der RAF. Es ging um elf inhaftierte RAF-Terroristen sowie zwei palästinensische Häftlinge in Istanbul, die freigepresst werden sollten.

Doch die durch Bundeskanzler Helmut Schmidt geführte Bundesregierung war zu keinen Zugeständnissen mehr bereit, wollte sich - anders als zu Beginn der Anschlagswelle - nicht noch einmal erpressen lassen. Die RAF reagierte: Mit der Entführung der "Landshut" wurde erstmals Gewalt gegen unbeteiligte Urlauber als Druckmittel eingesetzt.

Terrorkommando verbreitete Angst und Schrecken

Crew und Passagiere rückten binnen Sekunden in die Weltöffentlichkeit. Nach etwa einer Stunde in der Luft drang über französischem Boden ein mit Pistolen und Handgranaten bewaffnetes vierköpfiges Terrorkommando - zwei Männer und zwei Frauen - der mit der RAF verbundenen "Volksfront zur Befreiung Palästinas" ins Cockpit der "Landshut" ein, bedrohte Kapitän Jürgen Schumann mit einer Pistole und zerrte den Co-Piloten Jürgen Vietor heraus, während Passagiere, darunter auch Kinder, und Crew fortwährend angeschrien, bedroht und durch die Maschine getrieben wurden.

Palästinensische Terroristen kaperten am 13. Oktober 1977 die Lufthansa-Passagiermaschine "Landshut". Diese Grafik macht deutlich, welche Distanzen in den darauffolgenden Tagen zurückgelegt wurden.

Irrflug ging immer weiter nach Osten und Süden

Es ging Richtung Osten und bald auch nach Süden, über Rom, Larnaka (Zypern), Bahrain, Dubai und Aden im Südjemen; Orte, für die sich sehr bald kein Kartenmaterial mehr an Bord des Ferienfliegers befand. Immer wieder gingen die Treibstoffvorräte zur Neige, mehrere Flughäfen verweigerten die Landeerlaubnis. Bei der Befreiung in Mogadischu war die "Landshut" nicht die geplanten 1260 Kilometer nach Frankfurt, sondern rund 8500 Kilometer geflogen.

Perfides Spiel mit dem Leben

Zum Psychoterror der Terroristen kamen Temperaturen von über 50 Grad, unsägliche hygienische Verhältnisse und die nackte Angst ums Leben hinzu. Passagieren und Besatzungsmitgliedern wurde mehrfach die Hinrichtung angedroht; eine perfide Quälerei.

Die "Landshut" bei flirrender Hitze in Dubai, wo es damals noch keinen Hinweis auf die heutige Glitzerwelt gab. Foto: AP/picturealliance

Flughäfen versuchten, Landung zu verhindern

Viele Staaten wollten die Verlagerung des Konflikts auf ihren Grund um jeden Preis vermeiden. So kam es, dass Kapitän Schumann in Aden die Maschine neben der verbarrikadierten Betonpiste im Wüstensand landen musste. Es war die vorletzte Etappe des Dramas. Am Ende lag Jürgen Schumann erschossen im Mittelgang und wurde später in einen Schrank gezerrt.

Jürgen Vietor musste - mit dem wütenden Anführer der Terrorgruppe neben sich - die "Landshut" allein bei Dunkelheit durch tropische Gewitter nach Mogadischu in Somalia fliegen. Ob die Maschine das nach der Notlandung  und dem unbekannten technischen Zustand überhaupt noch mitmachen würde, war ungewiss.

Alkohol über Geiseln gegossen: "Damit ihr besser brennt!"

In den folgenden nervenzerrüttenden Stunden in Mogadischu fesselten die Entführer die Geiseln, übergossen sie mit der Androhung "Damit Ihr besser brennt!" mit Alkohol aus den Duty-Free-Tüten im Handgepäck der Passagiere und drohten die Sprengung des Flugzeugs an. Einer der schlimmsten Momente auch für Jürgen Vietor.

Geiseln ahnten nichts von Rettungsaktion

Angesichts der von der Regierung Schmidt klar propagierten Devise der Unnachgiebigkeit hatten die völlig erschöpften Geiseln den Tod vor Augen. Niemand ahnte, dass die GSG 9 der "Landshut" bereits lange folgte und die Stürmung des Flugzeugs plante.

Kurz nach Mitternacht nahm Jürgen Vietor am 18. Oktober ein Kratzen an der Bordwand wahr und verließ unter einem Vorwand das Cockpit. Er hatte das Geräusch der Leitern wahrgenommen, die außen ans Flugzeug gestellt wurden. Kurz danach gingen vorn die Blendgranaten der Sondereinheit hoch. Die GSG 9 stürmte das Flugzeug, drei der vier Entführer starben. Alle verbliebenen Geiseln überlebten.

Co-Pilot Jürgen Vietor und die am Bein verletzte Stewardess Gabi Dillmann verließen am 18. Oktober 1977 in Frankfurt als erste die Lufthansa-Maschine "Köln", mit der die befreiten Geiseln zurückgebracht worden waren. Foto: Heinz Wieseler/dpa

Das Foto, auf dem Jürgen Vietor bei der Rückkehr nach Deutschland seiner verletzten Kollegin, Stewardess Gabriele Dillmann, die Treppe herunterhalf, ging um die Welt.

Psychische und körperliche Qualen

Vietor hat später oft und eindrücklich von den unfassbaren psychischen und körperlichen Qualen dieses Irrflugs berichtet - in Schulen, der Presse, TV-Dokumentationen, Zeitzeugenprojekten und als Zeuge vor Gericht. Oft ist ihm dabei die Frage gestellt worden: "Meinen Sie, das hätte ein anderer auch geschafft?" Seine Meinung dazu: "Menschen wachsen an ihren Aufgaben."

Motto im Wappen des MFG 3 sind keine leeren Worte

Die Frage nach der Bedeutung der militärischen und fliegerischen Vorgeschichte macht ihn trotzdem nachdenklich: "Sehr hilfreich waren sicherlich meine Erfahrungen. Und schauen Sie sich mal das Motto im Wappen des Geschwaders an." "Treue, Mut, Bereitschaft, Zuverlässigkeit und Ausdauer" steht dort.

Für Jürgen Vietor waren das keine leeren Worte, auch nicht, als er die "Landshut" über unbekanntes Terrain nach Mogadischu steuerte, neben sich den meistens brüllenden und mit Waffen herumfuchtelnden Anführer der Terroristen, der unbedingt "Captain" genannt werden wollte.

In derselben Nacht, in der die "Landshut" gestürmt wurde, begingen mehrere führende RAF-Terroristen in ihren Zellen in Stuttgart-Stammheim Selbstmord. Der entführte Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer wurde am nächsten Tag ermordet im Kofferraum eines Autos in Frankreich gefunden. Es war nicht gelungen, auch ihn lebend zu befreien.

Wochen später saß er wieder als Co-Pilot am Steuer

Heute fast unvorstellbar: Nur Wochen später, nach einigen Flügen mit einem Ausbildungs- und Checkkapitän, ist Jürgen Vietor am 29. Dezember 1977 wieder als Co-Pilot für die Lufthansa in ein Flugzeug gestiegen - wieder in die "Landshut". "Das war kein Zufall, sondern die letzte Prüfung", ist er sich sicher.

Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1999 hat er rund 12.000 Flugstunden erflogen. Bei der Beförderung zum Flugkapitän gab es keine Extrawurst. 1991 ging er ins Kapitänstraining. Ab 1993 flog er ab Hamburg und wohnt bis heute im nahen Quickborn.

Verbindung nach Nordholz und Cuxhaven gehalten

Nach Nordholz hat er es immer wieder geschafft, zum Beispiel zu Jubiläen und zur Außerdienststellung der Breguet Atlantic im Jahr 2010 und zu den Zusammenkünften der Crew 5 der 1. Staffel. Eine weitere Leidenschaft verbindet ihn mit Cuxhaven: Häufig hat er mit seinem Wohnmobil auf der "Platte", dem legendären Stellplatz mit Blick auf die Elbe, Station gemacht. 

Jürgen Vietor vor der Breguet Atlantic, die heute als Torwächter vor dem Kasernentor aufgestellt ist. Foto: privat

Landshut ist zurück in Deutschland und soll Lernort werden

Mit einigen der damaligen Geiseln - zum Beispiel Flugbegleiterin Gabriele Dillmann, heute Gabriele von Lutzau, Passagieren sowie GSG 9-Männern - macht Jürgen Vietor bis heute Zeitzeugen- und Aufklärungsarbeit. Sie haben 2017 auch verfolgt, wie die "Landshut" aus Brasilien nach Deutschland zurückgeholt wurde  - ausgerechnet nach Friedrichshafen, Patenstadt des MFG 3 "Graf Zeppelin".

Jürgen Vietor (3.v.l), Gabriele von Lutzau (l.), ehemalige Stewardess, Diana Müll (2.v.l), die als Achtjährige an Bord war und und das ehemalige GSG 9-Mitglied Aribert Martin (r.) 2017 bei der Ankunft des "Landshut"-Rumpfs in Friedrichshafen. Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Unter der Regie der Bundeszentrale für politische Bildung soll hier der "Lernort Landshut" entstehen. Kein Museum, sondern ein Dokumentations- und Bildungszentrum, in dem an den "Deutschen Herbst" und die Auswirkungen des Linksterrorismus erinnert sowie Demokratieförderung betrieben wird. Deutschland steht für eine wehrhafte Demokratie - das hatten die Regierenden damals mit ihrer Position klar machen wollen. 

Sie hätten es gern authentischer - aber gut, dass überhaupt etwas passiert

Dass das gerupfte Flugzeug, dem für den Transport die Flügel und das Leitwerk abmontiert worden sind, nur im jetzigen Zustand konserviert werden soll, kommt bei vielen Zeitzeugen - auch bei Jürgen Vietor - nicht so gut an. Sie wünschten sich ein authentischeres Bild, um besser zu vermitteln, was dort wirklich passiert ist.

Jedoch ist der ehemalige Co-Pilot froh, dass überhaupt etwas passiert und das Projekt fortgeführt wird. Für 2026 ist die Eröffnung ins Auge gefasst, vor wenigen Tagen erst war Jürgen Vietor wieder als Zeitzeuge in Friedrichshafen.

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Maren Reese-Winne

Redakteurin
Cuxhavener Nachrichten/Niederelbe-Zeitung

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