Vier Logopädinnen sprechen mit der Schilderung ihres Praxisalltags Klartext: V.l. Thessa Timmermann, Sylvana Gottschalk, Martina Rusch und Sina Gornott. Foto: Reese-Winne
Vier Logopädinnen sprechen mit der Schilderung ihres Praxisalltags Klartext: V.l. Thessa Timmermann, Sylvana Gottschalk, Martina Rusch und Sina Gornott. Foto: Reese-Winne
Nicht nur Patienten verzweifeln

Selbst nach Schlaganfall unversorgt: Schwerer Logopädie-Engpass im Kreis Cuxhaven

von Maren Reese-Winne | 10.03.2025

"Man traut sich nicht mehr, ans Telefon zu gehen, weil die Unzufriedenheit der Menschen so krass ist", sagt Sina Gornott, Logopädin in Hemmoor (Kreis Cuxhaven). Auch bei Kolleginnen aus Stadt und Kreis wachsen die Wartelisten ins Unermessliche.

Obwohl sie sich schon mit Haut und Haaren dem Betrieb ihrer Praxis verschrieben haben, gehen Logopädinnen im Kreis Cuxhaven längst täglich über die Grenzen der Belastbarkeit hinaus. Vier von ihnen berichten über Hunderte von Namen auf der Warteliste, verzweifelte Patienten und sogar Bedrohung.

"Kann niemanden mehr annehmen"

Bei Martina Rusch, Betreiberin einer Praxis in der Pestalozzistraße in Cuxhaven, ist die Wartezeit auf zweieinhalb Jahre angewachsen: "Ich kann niemanden mehr annehmen - auch keine Schlaganfallpatienten, auch kein Kind mit einer neurologischen Erkrankung." Ihre Kolleginnen Sylvana Gottschalk (Cuxhaven/Dorum), Sina Gornott (Hemmoor) und Thessa Timmermann (Cuxhaven/Hemmoor) nicken, während sie weiter ausführt: "Es gibt keine Akutversorgung, keine Altenheim- oder Hausbesuche mehr."

"Man traut sich nicht mehr, ans Telefon zu gehen, weil die Unzufriedenheit der Leute so krass ist, wenn ich ihnen nicht mal ein Jahr für einen Termin nennen kann", ergänzt Sina Gornott. Da helfe auch der persönliche Weg in die Praxis nichts und schon gar keine Drohgebärden am Empfang. "Ich weiß, dass ich vielen Menschen damit die letzte Hoffnung nehme", sagt Sylvana Gottschalk.

Liebe zur Logopädie geht nach und nach verloren

"Ich liebe die Logopädie", betont Sina Gornott, "aber der Spaß daran geht hierdurch immer mehr verloren." Ihr Gewissen treibe sie dazu, Lösungen zu suchen, vor allem für Schlaganfallpatienten, deren größtes Problem nicht mal die Sprache sei, sondern die nicht mal mehr essen könnten. Diese Menschen lägen, statt ihre Rente zu genießen, zu Hause.

Lange Fahrten sind nicht mehr drin

Das bedeutet auch oft, dass sie die Praxis allenfalls liegend erreichen könnten. "Aber sie bekommen keinen Transportschein, weil wir keine Bewegungs-, sondern eine Sprachstörung behandeln", erklärt Sylvana Gottschalk die paradoxe Situation. "Stattdessen sollen wir fahren." Praktisch sei das so gut wie undenkbar.

Akuttermine um 19 und 20 Uhr

Auch Thessa Timmermann berichtet: "Unsere Wartelisten sind ebenfalls unglaublich lang, vor allem in Hemmoor." Inzwischen biete sie Akutplätze um 19 und 20 Uhr an. Das Problem: "Schlaganfallpatienten sind um diese Uhrzeit durch und Kinder auch." Manche Schulen stellten inzwischen sogar schon Kinder vom Unterricht frei, wenn sich ein freier Logopädie-Platz biete. Viele Eltern nähmen hierfür erhebliche Belastungen auf sich.

Schluck- und Stimmstörungen, Zustand nach Schlaganfall, neurologische Krankheiten, Krebs, Stottern und Probleme beim Spracherwerb sind nur einige Gründe für die Verordnung von Logopädie. Nichts davon ist in ein, zwei Sitzungen behoben, häufig ist eine Dauerbehandlung vonnöten, eine Sitzung dauert 40 Minuten.

Bis zu einem Jahr nach dem Hirnschlag gilt für Schlaganfallpatienten ein besonderer Verordnungsbedarf für intensive Physio-, Ergo- und Sprachtherapie. "Manche bekommen nichts davon, die stehen dann bei uns und fühlen sich alleingelassen", erzählt Martina Rusch.

"Wir spüren den Druck und können nichts dafür"

Doch das hinterlasse auch Spuren bei ihnen: "Es kann nicht sein, dass wir so unter Druck stehen und für die Situation überhaupt nichts können." Eine 60-Stunden-Woche könne auch von Selbstständigen nicht erwartet werden. Statt nach zwölf Stunden nach Hause zu gehen, warte dann noch die Büroarbeit. Überstunden würden mit satten Steuern belegt, dabei sei schon die Belastung durch Kranken- und Rentenversicherung enorm und ein strenger Rahmen beschränke die Wahlmöglichkeiten bei der eigenen Altersversorgung.

Logopädie kann nicht alles auffangen

Dringend müssten Verwaltungen und Politik ebenso ein strukturelles Problem lösen, das die Situation stark verschärfe, finden die Therapeutinnen: Die Unterstützung von Kindern aus geflüchteten Familien, aber auch aus Familien in schlechten sozialen Verhältnissen sei nicht gut geregelt. Die Logopädie allein könne nicht der Ausgleich für fehlende Sprachkurse und Erziehungsprobleme sein.

Den verordnenden Ärztinnen und Ärzten gehe es allerdings wahrscheinlich nicht anders als ihnen, räumen die Therapeutinnen ein: Die Überlastung treffe wohl alle Berufsgruppen, die mit Kindern arbeiteten.   

Wer auswärts studiert, bleibt meist weg

Der nächste Engpass zeige sich bei den Ausbildungskapazitäten, gefolgt von der Frage, wie Nachwuchskräfte für das Cuxland begeistert werden können. Dies sei eine Aufgabe der Kommunen und des Kreises, finden die Logopädinnen: "Strand allein reicht nicht."

Wer auswärts lerne oder studiere, komme meist nicht wieder zurück ins Cuxland, so Thessa Timmermann. Bei ihr und den Kolleginnen würden Fachkräfte jedenfalls beständig gesucht - die Chance für eine Festanstellung sei hervorragend.

Gute Versorgung ist auch ein Standortfaktor

Bei Oberbürgermeister Uwe Santjer haben die vier Logopädinnen schon vorgesprochen und dort darauf hingewiesen, dass auch Familien, die nach Cuxhaven ziehen wollten, erschrocken registrierten, dass hier eine logopädische Versorgung keineswegs gesichert sei.

Kolleginnen und Kollegen anderer Praxen teilten ihre Erfahrungen weitgehend, berichten die vier Gesprächsteilnehmerinnen. Sie sind in dieser schwierigen Situation froh über ihr eigenes Netzwerk, aber zur Verbesserung der Lage müssten nun auch andere tätig werden.

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Maren Reese-Winne

Redakteurin
Cuxhavener Nachrichten/Niederelbe-Zeitung

mreese-winne@no-spamcuxonline.de

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