Susanne Klawonn ist bei der Wahl auf die Hilfe ihres Mannes Michael angewiesen. Das Wahllokal im Ihlienworther Bürgerbüro ist nicht barrierefrei gestaltet. Foto: Mangels
Susanne Klawonn ist bei der Wahl auf die Hilfe ihres Mannes Michael angewiesen. Das Wahllokal im Ihlienworther Bürgerbüro ist nicht barrierefrei gestaltet. Foto: Mangels
Hürden bei Abstimmung

Bundestagswahl im Kreis Cuxhaven: Noch Luft nach oben bei Barrierefreiheit

von Redaktion | 24.02.2025

Einfach ins Wahllokal spazieren und das Kreuzchen setzen - für Menschen mit körperlichen Einschränkungen keineswegs selbstverständlich. Der Wahlsonntag hat gezeigt: Auch im Kreis Cuxhaven gibt es in Sachen Barrierefreiheit noch viel Luft nach oben.

Susanne Klawonn hält Wählen für ein Privileg. "Doch das wird mir unnötig schwer gemacht", findet die 58-jährige Ihlienwortherin. Seit zwei Jahren ist sie auf Rollstuhl und Rollator angewiesen und hat seitdem schlechte Erfahrungen gemacht in den Wahllokalen im Kreis Cuxhaven. Sie leidet an Polyneuropathie, einer Krankheit, die das Nervensystem beeinträchtigt. Kurze Strecken schafft sie mit dem Gehwagen, für längere nutzt sie ihren Rollstuhl. 

Unsere Redaktion trifft die 58-Jährige am Wahlsonntag vor dem Bürgerbüro in Ihlienworth. Erste Hürde: das Kopfsteinpflaster vor der Eingangstür des Wahllokals. Nur schwerfällig ruckeln die Räder des Rollstuhls über die Holpersteine. Es geht nur langsam vorwärts. Zum Glück ist Ehemann Michael zur Stelle und schiebt seine Frau in Richtung Eingangstür. Wahlhelfer Jan Loewer kommt nach draußen und bietet seine Hilfe an. Er öffnet und fixiert die Tür. Ohne diese Hilfe wäre Susanne Klawonn weitgehend aufgeschmissen. "Hier fehlt ein elektrischer Türöffner", sagt die Ihlienwortherin.

Karl-Wilhelm "Kalli" Hinsch, der stellvertretende Vorsitzende des Inklusionsbeirates des Landkreises Cuxhaven und frühere Behindertenbeauftragte der Samtgemeinde Land Hadeln, kennt das Problem. Schon seit vielen Jahren kämpft er dafür, dass die Bürgerbüros und Dorfgemeinschaftshäuser in Hadeln mit elektrischen Türöffnern ausgestattet werden. "In Sachen Barrierefreiheit gibt es noch viel zu tun", sagt Hinsch. Das gilt auch für alle jene Kreuzungspunkte, an denen hohe Bordsteine nicht abgesenkt sind. Der Weg über die Hauptstraße in Ihlienworth, sei es zum Bürgerbüro oder zum Tante-Enso-Einkaufsmarkt, ist für Susanne Klawonn nur mit Umwegen zu bewerkstelligen. "Das muss doch nicht sein", sagt die frühere Drogistin.

Nicht nur die fehlende Treppe vor dem Wahllokal

Barrierefrei wählen - das bedeutet nicht nur die fehlende Treppe vor dem Wahllokal und vielleicht noch die Wahlzettel-Schablone für Menschen mit einer Sehbehinderung. Wer sich wirklich mit Belangen von Menschen mit Beeinträchtigungen beschäftigt, stellt fest: Inklusion (oder das Gegenteil: Ausschluss) geht viel weiter.

Das fängt in Bereichen an, die von Nicht-Betroffenen oftmals nicht mal als mögliches Problem wahrgenommen werden. Zum Beispiel kann der Gang ins Wahllokal für Menschen mit Angst- oder Autismus-Spektrum-Störungen wegen der auf sie einstürmenden Reize eine riesige - bisweilen unüberwindbare - Belastung darstellen.

Eine Stimmzettel-Schablone nützt Blinden und Sehbehinderten nichts, wenn sie sich wegen eines fehlenden taktilen Leitsystems nicht im Gebäude zurechtfinden können. Kleinwüchsige, Contergan-Geschädigte oder Betroffene mit neurologischen Störungen, zum Beispiel nach einem Schlaganfall, kann schon das pure Ankreuzen des Wahlzettels wegen zu kurzer oder unbeweglicher Arme vor Hürden stellen.

Die Bundesfachstelle Barrierefreiheit hat für die Wahllokale leicht verständliche Piktogramme entwickelt. Im Cuxland sieht man sie noch eher selten. Foto: Bundesfachstelle Barrierefreiheit

Mal eben einen Wahlschein beantragen - also Wahlbenachrichtigung durchlesen, Antrag ausfüllen, unterschreiben, wegschicken - und dann die Briefwahl selbst durchzuführen schaffen viele Menschen mit Beeinträchtigungen nicht mal eben so, zumal, wenn die Fristen so knapp bemessen sind wie bei der jüngsten Bundestagswahl.

Viele dieser Hürden haben auch mit Isolation zu tun. Menschen mit Beeinträchtigungen, zu denen auch viele Seniorinnen und Senioren zählen, haben nicht automatisch Ehepartner, Kinder, Freunde zur Unterstützung an ihrer Seite. Eine Assistenz kann genehmigt werden, jedoch sind nach der Erfahrung von Betroffenen aus Cuxhaven schlichtweg keine oder nur sehr wenige Personen hierfür verfügbar.

Lücken im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) erschweren oft den Weg ins Wahllokal und spätestens dort stellt sich dann die Frage, ob jemand die Person in die Wahlkabine begleiten darf und kann, ohne dass dabei das Wahlgeheimnis verletzt wird; wohl der Hauptgrund, warum es für viele dann doch auf die Briefwahl hinausläuft. Laut Bundeswahlgesetz ist eine Hilfestellung bei der Stimmabgabe (auch in der Wahlkabine) möglich, wenn der oder die Wahlberechtigte nicht lesen kann oder wegen einer Behinderung an der Abgabe der Stimme gehindert ist.

Wobei es am Wahlrecht für Menschen mit Behinderungen keinen Zweifel gibt. "Jeder Mensch hat das Recht, zu wählen. Jede Stimme hat den gleichen Wert", stellt der Bundesverband der Lebenshilfe fest. Erst 2019 allerdings wurde dieses Recht auf alle Wahlberechtigten in Deutschland - auch, wenn sie betreut werden - ausgeweitet.

Dass dieses Recht auf Teilhabe im wirklichen Leben oft so schwer umzusetzen ist, ist ebenso Tatsache wie die bittere Erkenntnis einer Betroffenen: "Für viele ist die Wahl noch das geringste Problem." Viele seien schon im täglichen Leben ausgelaugt und gefangen zwischen Bürokratie, dem Ringen um medizinische Versorgung und der Bewältigung des Alltags. Viele Betätigungsfelder für eine neue Bundesregierung …

Von Maren Reese-Winne und Jens-Christian Mangels

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