
Alfa-Mobil wirbt in Otterndorf fürs Lesen und Schreiben lernen
Rein statistisch gesehen gibt es im Bereich Otterndorf rund 600 Menschen, die nicht lesen und schreiben können. Darauf machte das Alfa-Mobil aufmerksam, das am Dienstag in der Medemstadt stoppte und ein Tabu-Thema in die Öffentlichkeit rückte.
Es hat Zeiten gegeben, in denen sich Uwe Boldt immer wieder Ausreden einfallen ließ, um nicht zum Stift greifen zu müssen. Niemand sollte erfahren, dass er weder des Schreibens noch des Lesens mächtig war. "Ich habe das verschwiegen. Ganz bewusst", erzählt der gebürtige Hamburger.
Studien besagen: Menschen wie Uwe Boldt sind längst keine Ausnahme. Dr. Marie-Louise Rendant, Leiterin der Volkshochschule Landkreis Cuxhaven, erklärt: "Statistisch gesehen betrifft es jeden achten Deutschen, der nicht richtig lesen oder schreiben kann." Der funktionale Analphabetismus sei sowohl in Städten als auch im ländlichen Raum verbreitet. "Aber im ländlichen Raum sind Menschen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten stärker isoliert und bleiben häufiger unsichtbar", sagt die VHS-Leiterin. In dörflichen Strukturen fehle es an Anonymität, weshalb sich Betroffene seltener Hilfe holen - aus Scham oder Angst vor Stigmatisierung.
Uwe Boldt war, wie er erzählt, gar nicht in der Lage, ein Buch zu lesen oder ein Formular auszufüllen. In der Schule wurde er mitgeschleppt. "Ich wurde bis in die Klasse 9 versetzt. Wie es hieß, aus pädagogischen Gründen." Bis zum 30. Geburtstag habe er sich irgendwie durchgemogelt. "Für den Führerschein brauchte ich zum Glück nur anzukreuzen."
Über das Arbeitsamt erhielt Boldt eine Stelle im Hamburger Hafen, war zunächst Laufbursche, der Lieferpapiere ins Büro brachte. Später saß er in gewaltigen Kränen, ent- und belud Schiffe mit schwerem Frachtgut. Über ein offenes Beratungsangebot fand er den Weg zu VHS-Kursen, in denen er das Alphabet büffelte. Boldt erinnert sich: "Fünf Mal bin ich am Stand vorbeigelaufen. Erst beim sechsten Mal, als dort kein anderer stand, habe ich mich hingetraut."
Uwe Boldt ist froh, dass er sich ein Herz gefasst hat
Der heute 66-Jährige ist froh, dass er sich ein Herz gefasst hat. Das liegt mittlerweile mehr als zehn Jahre zurück. Heute kann er lesen und schreiben: "Für mich ist dadurch alles schöner geworden. Früher war alles schwarz-weiß, heute ist es bunt." Als Lernbotschafter begleitet er ehrenamtlich das Alfa-Mobil, ein Projekt des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung, um anderen Betroffenen zu helfen und ihnen Mut zu machen. So auch am Dienstag, als das Mobil Station am Otterndorfer Edeka-Markt machte. "Ich kann jedem nur raten, seine Scham abzulegen und sich Hilfe zu suchen", sagt Uwe Boldt.
Dass das Empfinden von Scham das Hauptproblem ist, das bestätigt auch Stefan Wälte vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung. Er tourt mit dem Info-Bus durch ganz Deutschland und versucht mit seinem Team, auf die vielfältigen Hilfestellungen bei Analphabetismus aufmerksam zu machen: "Es ist kein Problem einiger, es ist ein Problem vieler", betont Wälte. In Deutschland gebe es laut Schätzung rund sechs Millionen Menschen, die funktionale Analphabeten seien. Und die Dunkelziffer sei womöglich noch viel höher. Problem sei, dass sich die meisten einfach nicht trauten, sich zu outen und ihre Probleme öffentlich zu machen.
Diese Erfahrung hat auch VHS-Leiterin Marie-Louise Rendant gemacht. Sie bietet zwar Alphabetisierungskurse an, aber die Nachfrage sei "gleich null". Sie hofft, dass Betroffene und ihr Umfeld durch Beratungsangebote wie das Alfa-Mobil einen Anstoß bekommen, die vorhandenen Hilfsangebote anzunehmen.
Dass es noch viel zu tun gibt, wissen auch Irene Wischhusen, Erste Samtgemeinderätin bei der Samtgemeinde Land Hadeln, und der CDU-Landtagsabgeordnete Claus Seebeck, die sich von der guten Arbeit des Alfa-Mobils vor Ort überzeugten. Die Sprachförderung müsse schon in den Kitas beginnen, findet Irene Wischhusen. "Es wird immer mehr gewischt, nicht geblättert."