Joachim Gauck in Otterndorf über die Demokratie: "Ein ermächtigendes Lebensgefühl"
Joachim Gauck beleuchtet in seiner Rede in Otterndorf die Werte der Demokratie und Freiheit, warnt vor autoritären Bedrohungen und betont die Notwendigkeit, die erkämpften Rechte zu schätzen und zu verteidigen.
Dieser Donnerstag, der 15. Mai, war ein "schöner Tag" für Joachim Gauck, "auch wenn er auf einem Friedhof angefangen hat", nämlich mit der Beisetzung von Margot Friedländer auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee. Doch bei einer 103-Jährigen sei es weniger eine Trauerfeier gewesen als "Erntedank", meinte der Alt-Bundespräsident.
Die Ehre des Voß-Preises habe ihn sehr berührt, da die Werte des Humanismus und der Aufklärung, für die der Dichter, Übersetzer und Landsmann Gaucks stand, in gerader Linie zum ersten Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland wiesen, der Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Diesen habe Voß vorgedacht, auch wenn die Menschenrechte im ausgehenden Zeitalter des Absolutismus gerade erst entdeckt wurden.
"Die schönste Zeit meines Lebens"
Seine eigenen Bürgerrechte hat Joachim Gauck erhalten, als er schon 50 Jahre alt war. Am 18. März 1990 durfte er zum ersten Mal in freier und geheimer Wahl seine Stimme für die Volkskammer abgeben. Es war, nach der friedlichen Revolution, die letzte Wahl in der DDR, aber die erste demokratische. "Jetzt war ich ein Bürger. Es war ein ermächtigendes Lebensgefühl, die schönste Zeit meines Lebens." Es war der Schritt von der Befreiung zur Freiheit, einem erwachsenen Lebensgefühl, das mit Verantwortung und Anstrengung verbunden sei.
"Wir dürfen denen nicht unsere Angst schenken"
Denen, die heute die Freiheit bedrohen, die offene Gesellschaft fürchten und verachten und sich nach autoritärer Führung sehnen, dürften wir "nicht unsere Angst schenken". Dies bekräftigte Rolf Sünderbruch, der als Vorstandsvorsitzender der Weser-Elbe Sparkasse die Verleihung des Voß-Preises vornahm: "Wir sollten Nichthandeln mehr fürchten, als die Auseinandersetzung mit denen, die unsere Werte nicht teilen." Der Passivität gegenüber Putins Getreuen in diesem Land, ob die AfD, die er als "Vaterlandsverräter" kennzeichnete, Sahra Wagenknecht, die sich nach Gaucks Worten durch eine merkwürdige Kälte gegenüber den Opfern auszeichne, oder Teilen der Linken erteilte Joachim Gauck eine klare Absage.
"Wladimir Putin hat seit seiner KGB-Zeit nichts dazugelernt"
Es sei ein historischer Irrglaube gewesen, Wandel durch Annäherung zu erreichen. Diese Politik habe nur einmal in den 1970er Jahren funktioniert. Doch sei diese Politik auch noch nach 1990 fortgeführt worden. Auch der Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 sei diesem Wunschdenken gefolgt. Gauck: "Wir verabschieden uns gerade erst von diesem Wunschdenken." Wer dem Aggressor mit Beschwichtigung beizukommen versuche, habe nichts verstanden. Gauck: "Wladimir Putin hat seit seiner KGB-Zeit nichts dazugelernt." Der russische Präsident sei im Zarismus stecken geblieben und verfolge eine alte reaktionäre Agenda.
Gauck legte ein klares Bekenntnis zur militärischen Stärke ab: "Wir schauen friedfertig aber bewaffnet nach Moskau. Wir müssen mit Waffen unseren Gegnern die Stirn bieten." Es sei geradezu eine "Menschenpflicht, einem überfallenen Opfer zu helfen". Er stellte klar: "Wir müssen kein schlechtes Gewissen haben, wenn wir Schwächeren helfen."
Warum es sich lohnt, in diesem Land zu leben
Speziell den jungen Menschen in den Seelandhallen, Auszubildenden der Weser-Elbe Sparkasse und der Samtgemeinde Land Hadeln, bot Joachim Gauck an, auf das Land zu schauen, als wäre man gerade erst angekommen. Natürlich fände man überall etwas, was zu kritisieren sei, was nicht funktioniere oder unzureichend wäre. Aber es gebe eben auch vieles, wodurch es sich lohne, in diesem Land zu leben: freie Wahlen, freie Rede, Meinungs- und Pressefreiheit, das Recht eine Partei, einen Verein oder eine Initiative zu gründen, eine von der Macht unabhängige Rechtsprechung, ein Sozialstaat, die Liebe zum Frieden, die Freiheit von Wissenschaft und Kunst aber auch das Recht, das Land jederzeit verlassen zu dürfen, wenn man will. All das, was engagierte Menschen so geschaffen und erkämpft haben, sei nicht selbstverständlich und werde erst dann bewusst, wenn etwas davon fehlt. Aber: "Dies ist unsere politische Wirklichkeit. Wo ist die Dankbarkeit dafür?", schloss Alt-Bundespräsident Joachim Gauck seine Rede. Die Anwesenden erhoben sich zum lang anhaltenden, stehenden Applaus.