Was wird man denn noch sagen dürfen? Auf dem Weg zur nächsten Stufe der Eskalation
Im gleichen Moment, in dem ganz Deutschland über Nazi-Gesänge spricht, wird ein Wohnheim für Menschen mit Behinderungen attackiert. Die schockierende Botschaft: "Euthanasie ist die Lösung." Kein Zufall, sondern eiskalte Taktik, meint unsere Autorin.
Im gleichen Moment, in dem auf Sylt, vor unserer Haustür und in ganz Deutschland naziverherrlichende Gesänge angestimmt werden, trifft in Mönchengladbach ein Ziegelstein die Eingangstür eines Wohnheims für Menschen mit Behinderungen. Die widerliche Aufschrift: "Euthanasie ist die Lösung." Zufall? Ach was. Hier wird die nächste Eskalationsstufe gezündet und geprüft, was man denn noch so alles wieder sagen kann und welches Gedankengut neu ins Bewusstsein geträufelt werden kann. Beim Nazi-Sprech funktioniert das ja schon ganz gut: "Das wird man doch wohl mal sagen dürfen…", "was soll denn ein harmloses Lied anrichten…" Sehr treffend kommentierte ein Nachbarskind dieser Tage auf Instagram: "Ich kotze."
AfD möchte schon lange über Wertigkeit menschlichen Lebens richten
Den Anspruch, sich ein Urteil über die Wertigkeit menschlichen Lebens erlauben zu können, erhebt übrigens auch die AfD schon lange für sich. Was sollen die armen, armen Schwachen auch zur Volkswirtschaft beitragen, nicht wahr. Auch als Stammtischparole geeignet. Was manche Eltern von Kindern mit Down-Syndrom heutzutage im Netz zu hören bekommen - von "das muss doch heute nicht mehr sein" bis "dann zahlt auch alle Behandlungen selber, um der Allgemeinheit nicht zur Last zu fallen", zeigt, dass es längst so weit ist.
Ausgerechnet zum Jahrestag des Grundgesetzes wird deutlich, dass Grundwerte verteidigt werden wollen, ja müssen. Die Jugendlichen, die in Otterndorf "Deutschland den Deutschen" gesungen hätten, seien keine überzeugten Rechtsextremisten, stellte ein Polizeibeamter am Mittwoch im Cuxhavener Rathaus fest. Um ihnen zu begegnen, bedürfe es jedoch erheblicher Präventionsmaßnahmen und Aufklärung. Das aber dürfen wir nicht den Profis und aktiven Ehrenamtlichen überlassen, wie die fallende Hemmschwelle zeigt.
Nicht jedes Bildchen bei Whatsapp teilen
Solche Auftritte nicht zu verharmlosen, populistische Bildchen und Sprüche nicht bei Whatsapp und Facebook zu teilen, Parolen skeptisch zu begegnen und lieber rauszugehen statt am PC in Elend und Verschwörungstheorien abzudriften: auch das schützt unser Gemeinwesen. Wobei nicht nur das Gegröle über Nazi-Symbole oder die geifernde Forderung nach der Ausrufung eines Kalifats in Deutschland Aufmerksamkeit erfordern, sondern auch das schleichende Gift, von dem wir oft nicht mal etwas wissen. So wurde bei der Gründung der "Omas gegen Rechts" in Cuxhaven eindrücklich vor den auf die Jugend zielenden AfD-Aktivitäten bei TikTok gewarnt. Das wiederum sollte ein Thema für Profis wie Polizei und andere Parteien sein.
Informieren und Hingehen
Informieren, Zuhören, Hingehen: Das aber können viele von uns hinbekommen. Zum Beispiel am Sonnabend, 1. Juni, von 10 bis 16 Uhr zum Tag der offenen Tür im Werkhof der Lebenshilfe in Cuxhaven, wo es um Chancengleichheit und Inklusion auf dem Arbeitsmarkt geht. Und da ist mir eine dort beschäftigte Kirsten E., die mir eine herzallerliebste handgeschriebene Einladung hat zukommen lassen, deutlich lieber als jeder Sprücheklopfer mit angeblich keiner Behinderung.
Zum Thema Euthanasie hat Cuxhaven mit dem Stolperstein für Marianne Janecke in der Beethovenallee 7 eine bleibende Erinnerung geschaffen. Als "unwertes Leben" eingestuft, wurde das kleine Mädchen 1941 mit nur sieben Jahren von den Nazis ermordet. Für den Komponisten Walter Frick reichte dafür schon die Diagnose Depression. Wie aus der Spurensuche seiner Enkelin die Erzählung "Himmel voller Schweigen" entstand, ist ebenfalls am 1. Juni um 19 Uhr Thema einer Lesung in der Stadtbibliothek Cuxhaven, aktueller denn je. Plätze sind noch frei.