
Die Suche nach Identität: Blick hinter die Kulissen des Hamburger Musicals "& Julia"
Als Volontärin dieses Medienhauses berichte ich vorwiegend über lokale Ereignisse. Während eines Kurses an der Akademie für Publizistik in Hamburg darf aber auch Neues ausprobiert werden. In diesem Fall: Backstage im Musical-Theater Hamburg.
In dem Musical "&Julia", basierend auf William Shakespeares "Romeo und Julia", spielt Oliver Edward einen wichtigen Weggefährten Julias. Rollen sollten für ihn alle Facetten des Menschseins und mehr als Stereotype abbilden. Wie kann dies in einem Stück gelingen, das mehr als 400 Jahre alt ist?
Das Operettenhaus auf der Reeperbahn
Schon lange vor Beginn des Musicals ist Oliver Edward im Operettenhaus auf der Reeperbahn. Noch lässt sich nicht erahnen, wie das Theater mit dem etwas spießig anmutenden Namen später mit Diversität erfüllt sein wird.
Der Darsteller ist am Vormittag Gesangslehrer, in dem Musical "& Julia" schlüpft er in die Rolle des François Du Bois. Ein zurückhaltender junger Mann, der nicht so recht in die Vorstellungen seines Vaters zu passen scheint. Das Musical behandelt mehr als die Idee einer emanzipierten Julia, die sich gegen den Freitod entscheidet, nachdem sie festgestellt hat, dass ihr geliebter Romeo tot ist. Sie macht sich auf die Reise und begegnet dabei auch Francois, der ebenso auf der Suche ist. Nicht nur nach der Liebe, sondern auch nach sich selbst.

"'& Julia‘ bereits in sechs Ländern zu sehen"
Im Foyer des Theaters ist nur das leise Surren der Klimaanlage zu hören. In wenigen Stunden werden viele Besucher und Besucherinnen über den üppigen roten Teppich laufen. Es ist Freitag, und die Vorstellung wird ausverkauft sein.
Am 30. Oktober 2024 feierte das Musical "'& Julia‘" Premiere in Hamburg. Erst kürzlich wurde aufgrund des großen Erfolgs die Verlängerung bis Februar 2026 bekannt gegeben. Deutschland ist das sechste Land, in dem "'& Julia‘" zu sehen ist. Auch im West End in London, auf dem Broadway in New York, aber auch in Kanada, Australien und Singapur wird das Musical aufgeführt.
"Hinter den Kulissen - im Labyrinth des Theaters"
Oliver Edward bewegt sich mit Leichtigkeit durch die vielen Gänge hinter den Kulissen des Musicaltheaters, die einem Labyrinth gleichen. Ein kalter, dünner Nebel wabert von der Decke aus durch die Luft. Dieser soll die Luftfeuchtigkeit erhöhen, damit die Stimmbänder der Darsteller und Darstellerinnen nicht austrocknen. In der sogenannten Blackbox befinden sich alle Kostüme, die für die Vorstellung benötigt werden. Während der Show wird dort ein reges Treiben herrschen, damit die Kostümwechsel schnell stattfinden können. In den Gängen hinter der Bühne befinden sich viele Requisiten, die später in der Show zu sehen sein werden: Betten, die nur weich aussehen, aber anstatt einer Matratze aus einem stabilen Material bestehen, damit darauf getanzt werden kann; Dreiräder in Form eines Pferdes, die sich nicht fahren lassen, und Sektgläser, die zwar gefüllt, aber durch eine dünne Plastikschicht geschützt und auslaufsicher sind.

Vom Mathematikstudium zum Musical
Immer wieder summt Oliver Edward gedankenverloren vor sich hin. "Ich hatte schon immer extrem viel Spaß am Performen und war schon als Kind auf der Bühne", erklärt er. Zuerst habe er Technische Mathematik in Wien studiert. Nur aus Zufall war er dank eines Freundes zum Musical "Hairspray" an das Linzer Landestheater gekommen. "Dort spielt man keine acht Shows die Woche, sondern vielleicht zwei. Ich dachte mir, ich wünschte, ich könnte es acht Mal die Woche spielen." Er entschied sich dafür, sich für ein Gesangs- und Schauspielstudium in London zu bewerben und erhielt ein Stipendium für die ArtsEd, eine renommierte Performing- und Dramaschule in London.
Dreidimensionale Rollen
Wann immer Oliver Edward jemandem Backstage begegnet, begrüßt er diesen mit einem breiten Lächeln oder einer vertrauten Umarmung. Er verschwindet kurz in der Blackbox und kehrt in dem Kostüm seiner Rolle zurück. Müsste der Musicaldarsteller Francois beschreiben, wäre es mit den Worten liebevoll, tollpatschig und gutmütig. "In einer Show ist es in erster Linie für mich extrem wichtig, dass eine Rolle dreidimensional sein darf, dass sie Charaktereigenschaften haben darf, die über ihre sexuelle Orientierung und über die Gender-Identität hinausgehen."
Shakespeare rüttelt an den Traditionen
Schon vor mehr als 400 Jahren rüttelten William Shakespeares Stücke an den Traditionen. Zwei angesehene englische Sprachwissenschaftler, Sir Stanley Wells und Dr. Paul Edmondson vom Shakespeare-Institut der Universität Birmingham, das in Shakespeares Geburtsstadt Stratford-upon-Avon angesiedelt ist, untersuchten mehr als 150 Sonette Shakespeares und kamen zu dem Ergebnis, dass der Künstler mit großer Wahrscheinlichkeit bisexuell war. Das Musical "& Julia" liefert somit keine komplette Umdeutung des weltberühmten Dramas.

"Ein Tropfen Revolution"
Für Oliver Edward gibt es beim Thema queere Repräsentation zwei Aspekte: Einerseits in einer Show, andererseits in der gesamten Entertainment-Industrie. Alle Facetten des Menschseins sollten abgebildet werden, erläutert er. "Menschen im Publikum müssen sich sehen und nicht nur Stereotype."
Eine Show oder ein Theater könnten dies nicht allein leisten. Die Entertainment-Industrie bräuchte einen Konsens darüber, dass sie Verantwortung trägt. "Das Musical ,&Julia' ist ein Revolutionstropfen", sagt Oliver Edward. Während er spricht, wird deutlich, wie wichtig ihm dieses Thema ist. Er wirkt jetzt ernst und hält Blickkontakt. "Was erzählen wir den Hunderten, Tausenden Menschen über die Personen und Rollen in dieser Show? Wie sehen die Leute sich auf dieser Bühne, wenn sie sich überhaupt sehen? Das gilt für queere Repräsentation, aber auch für People of Color und Frauen." Häufig greife man im Musical auf älteres Material zurück, während Filme immer wieder neu produziert werden. "Ich finde, dass ein Stück aus einer alten Zeit stammt, reicht nicht mehr als Argument aus, um zu sagen, da kann man halt nichts machen. Es ist unsere Entscheidung, was wir hier für Stories reproduzieren."
Wenn später am Abend der letzte Song performt wird, Oliver Edward sich tanzend über die Bühne bewegt und das Publikum in einem Konfettiregen mitsingt und klatscht, hat man das Gefühl, dass dieser kleine Tropfen Revolution von jedem Besucher aufgenommen wurde, um ihn hinaus aus dem Theater in die reale Welt zu tragen.