
1968: Ein bisschen Revolte in Otterndorf
OTTERNDORF. War da was abseits der Revoluzzer-Hochburgen Berlin, Frankfurt und Hamburg?
Nur gut 40 Stunden zuvor sind die Streitkräfte des Warschauer Pakts mit Panzern in die Tschechoslowakei eingerückt, haben den "Prager Frühling", den Traum vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz, niedergewalzt. Eine Nachricht, die Europa, ja die ganze Welt erschüttert. Überall gehen die Leute auf die Straße, geeint in Sympathie für die Tschechoslowakei und den Reformer Alexander Dubček, geeint in Wut auf die federführende Sowjetunion.
Im Otterndorfer Hinrich-Wilhelm-Kopf-Lager ist die Wut besonders groß. Das Feriencamp ist zu dieser Zeit mit der Tschechoslowakei eng verbunden, es gibt einen regen Jugendaustausch. Erst wenige Wochen zuvor haben tschechische Jugendliche das Otterndorfer Sommerlager besucht. "Diese Menschen waren voller Lebensfreude und Hoffnung in Erwartung einer besseren Zukunft", sagt Wolfgang Pahl, der Leiter des Sommercamps, auf der Treppe des Otterndorfer Rathauses. Nach dem Überfall des Warschauer Paktes sei man zusammengekommen, um dem unterdrückten Volk die Solidarität zu bekunden, so Pahl. Dann spricht Alfred Thies, Bürgermeister des Zeltdorfes Vahrenheide, zu den überwiegend jungen Demonstranten. Auch er verurteilt die brutale Niederschlagung des Prager Frühlings, bei der mehr als 100 Menschen ums Leben gekommen sind. Nach dem Abspielen der tschechischen Nationalhymne setzt sich der Protestzug wieder in Bewegung. Immer wieder ertönen die Sprechchöre "Freiheit für die Tschechoslowakei" und "Es lebe Dubček".
Der Otterndorfer Thomas Dock, der den Protestzug als Siebenjähriger miterlebt, hat die Rufe der Protestler heute noch im Ohr: "Das war die erste Demonstration meines Lebens. Ich war tief beeindruckt." Dinge, die heute selbstverständlich erscheinen, sind Ende der 1960er-Jahre in Otterndorf noch Neuland: Es ist die erste große politische Demonstration nach dem Zweiten Weltkrieg. "Das war kein Schweigemarsch, da war richtig Leben drin", erinnert sich Dock.