Rückblick auf 2015

Als Flüchtlinge nach Otterndorf kamen

05.09.2018

OTTERNDORF. Vor genau drei Jahren brachte die Flüchtlingswelle zahlreiche Menschen nach Otterndorf. Das Feriencamp wurde über Nacht zum Flüchtlingscamp. Von Wiebke Kramp

Plötzlich war alles anders. Menschen aus neun Nationen spülte die Flüchtlingswelle hinter den Elbdeich. Einige blieben nur wenige Stunden und machten sich gleich weiter auf den Weg Richtung Großstadt oder Skandinavien. Andere fanden hier Zuflucht und sogar eine Zukunft.

Erstaunlich schnell stellte sich im Camp Alltag ein. Kinder rollerten über das Gelände, Frauen hängten ihre Wäsche zwischen den Zelten auf, Männer trafen sich zum Rauchen und Reden, Jugendliche spielten Fußball oder Billard.

Die Menschen aus Syrien, Afghanistan oder Nordafrika konnten dort die Strapazen ihrer Flucht hinter sich lassen und Kraft tanken für ihren Start ins neue Leben in der Fremde. Sie kamen zur Ruhe – und trafen auf durchweg wohlwollende Unterstützung.

Unausgesprochen einig hatten die Menschen dieser Region „Wir schaffen das“ zum Leitmotiv erkoren. Willkommenkultur war keine Worthülse. Damals war es gelebte Wirklichkeit. Täglich machten sich zahlreiche Ehrenamtliche auf den Weg nach Müggendorf. An der Tagesordnung waren Übersetzungsdienste, Sprachunterricht oder Freizeitgestaltung.

Ein Drehbuch gab es nicht, vielmehr wurde nach Lage gelebt. Die Johanniter – im Zusammenspiel mit Kreis, Samtgemeinde, Feuerwehr, Krankenhaus und Kirche sowie zahlreiche Ehrenamtliche – organisierten einen gut funktionierenden Betrieb. Die Samtgemeinde stellte den Bus-Shuttle zwischen Müggendorf und Otterndorf sicher. Aus dem Nichts entstand in der leerstehenden Feuerwache in Otterndorf eine Kleiderkammer.

Musterbeispiel fürs Ankommen ist das syrische Ehepaar Hadil AbuQasem (30) und Amer Mawed (32). Es fand in Cadenberge ein neues Zuhause. Amer hat gerade seine Zusatzqualifikation in Hamburg erfolgreich abgeschlossen und darf im Auftrag des Bundesamtes für Migration und Flucht (Bamf) das Fach Deutsch für Ausländer unterrichten. Noch ist er bei der BNVHS in Cuxhaven in der Flüchtlingsarbeit beschäftigt, Die Hoffnung allerdings ist groß, demnächst als Englischlehrer in Festanstellung anfangen zu können. „Dann haben wir es richtig geschafft.“ Unterdessen unterrichtet seine Frau Hadil noch einmal in der Woche an den Berufsbildenden Schulen Cadenberge. Ansonsten kümmert sie sich um ihre Tochter Cila. „Gott sei Dank, dass wir hier leben. Cila weiß nicht, was Angst, was Blut, was Krieg bedeuten.“ Das Temperamentbündel wird im Dezember zwei Jahre alt – und versteht neben arabisch alles, was man ihr auf Deutsch sagt. Auch deutsche Kinderlieder trällert sie mit. Mit Cila besucht Hadil die Mutter- und Kindgruppe, geht zum Turnen und trifft sich mit Freundinnen aus Srien, Deutschland und China. Plan des Paares ist, dass sie wieder anfängt, sich beruflich weiter zu qualifizieren, sobald Cila den Kindergarten besucht. Gern möchte Hadil AbuQasem dann als Dolmetscherin arbeiten.

Rückblende: Als sie vor drei Jahren in Otterndorf ankamen, sprachen sie kein Wort Deutsch, hatten aber Universitätsabschlüsse im Gepäck und von der ersten Stunde den festen Willen, die Sprache zu lernen und im Gastland zu bleiben.

„Ich werde mich immer erinnern an die Angst, die wir mitgebracht haben – und an die Kälte“, sagt Hadil „Wir gewöhnten uns aber schnell an das Leben im Camp“, erzählt Amer. „Hier weckten uns keine Bomben auf, wir konnten schlafen und zur Ruhe kommen.“ Schon nach zwei Wochen fühlte es sich wie Heimat an. „Eine Heimat ohne Krieg und mit so vielen netten Leuten, die wir kennen gelernt haben.“ Vom ersten Tag an halfen beide mit, sich für die Allgemeinheit zu engagieren.

„Unser Leben hat sich schnell verändert und wir haben uns schnell daran gewöhnt “, sagen sie. Vorkommnisse wie in Chemnitz besorgen sie. Aber hier sei es anders als in den großen Städten – und die meisten Leute seien nett zu ihnen, versichern sie. Aber manchmal spüren sie doch die misstrauischen Blicke und Vorbehalte. „Wir müssen Vorbilder sein. Schließlich sind wir die fremden Leute und als Gäste hier“, betonen sie in ausgezeichnetem Deutsch. Hadil – eine selbstbewusste, gebildete Frau – will bewusst ihren Hidjab nicht ablegen. Die Kopfbedeckung sei ihr als Ausdruck ihres Glaubens wichtig.

Anders als sein Vater, der wieder zurück nach Syrien ging, möchte auch Refat (20) eine Zukunft in Deutschland aufbauen. Gerade hat der junge Syrer aus Homsk seine IT-Ausbildung beim Cuxhaven-Niederelbe-Verlag begonnen. Er wohnt in Neuhaus in einer eigenen Wohnung und träumt davon, den Führerschein machen zu können. Jordanien, Ägypten, Türkei und Libanon waren die Stationen seiner Flucht, bevor Refat, erst 17-jährig vor drei Jahren im Otterndorfer Camp landete. „Das war cool“, erinnert er sich, „wie Ferien hat sich das angefühlt und ich habe jeden Tag Fußball gespielt.“ Unvergessen der erste Kuss von einem Mädchen aus Serbien und die viele frische Luft und endlich zur Ruhe kommen zu können. Refat ist angekommen und spricht fließend Deutsch. Das Ehepaar Barmbold und Arnulf Radecker haben den Jugendlichen unter ihre Fittiche genommen und ihn fit für die Ausbildung im fremden Land gemacht.

Die Erinnerung an das Camp holt auch den Samtgemeindebürgermeister immer wieder ein. „Eine unglaubliche gesellschaftliche Leistung, sie wurde getragen von einer Welle der Hilfsbereitschaft“, staunt Harald Zahrte. Als er diese Woche mit Pflegekraft Mohammed bei seinem Klinikaufenthalt in Otterndorf ins Gespräch kommt, tauchen viele Bilder wieder auf. Es stellt sich heraus, dass der junge Mann vor drei Jahren im Müggendorfer Camp landete. Und nun steht der geflüchtete Syrer kurz vor seiner Pflegeprüfung. Bewegende Zeiten waren das damals für Harald Zahrte. Durch seine persönliche Ansprache und Versprechen schaffte er es, die Flüchtlinge aus den Bussen Bus zu bewegen. Ein Kraftakt, aber sein Wort hatte Gewicht. Unvergessen bleibt ein weiterer erfolgreicher Deeskalitionsversuch, bei dem er sein Wort hielt und jedem Campbewohner einen Bargeld-Vorschuss auszahlte. Viele Behörden waren hoffnungslos überfordert mit der Situation. Deutschland befand sich im September 2015 im Ausnahmezustand.

„Bevor Bund und Land handeln konnten, haben die Gemeinden längst agiert und auf die besondere Situation reagiert“, erinnert sich Zahrte. „Es waren eben außerordentliche Tage. Wir hatten keinerlei Möglichkeiten die Lage im voraus zu planen. 400 Menschen kamen in Bussen an und mussten von uns versorgt werden“.

Im Gedächtnis haften bleibt das Zusammenspiel der Johannitern, Feuerwehr, Kreis oder Klinik sowie der große Einsatz der Ehrenamtlichen. Das Miteinander und Füreinander in dieser Notsituation nennt er „gelebter Humanismus“. Während es anderswo in Deutschland Probleme im Aufeinandertreffen von Kulturen gebe und es zu einem Wandel der Einstellung gekommen sei, gebe es bei uns vor Ort wenig Probleme, viele gute Beispiele und nach wie vor eine eine große gesellschaftliche Bereitschaft von Ehrenamtlichen.

Wie hat Ihnen der Artikel gefallen?

(1 Stern: Nicht gut | 5 Sterne: Sehr gut)

Feedback senden

CNV-Nachrichten-Newsletter

Hier können Sie sich für unseren CNV-Newsletter mit den aktuellen und wichtigsten Nachrichten aus der Stadt und dem Landkreis Cuxhaven anmelden.

Die wichtigsten Meldungen aktuell


Lesen Sie auch...
Blaulicht

+ + Aus dem Polizeibericht + +

Einen berauschten Autofahrer zogen Polizeibeamte am Sonntagnachmittag in der Raiffeisenstraße in Bad Bederkesa aus dem Verkehr.

In Otterndorf

Treffen der Kreisgemeinschaft Labiau/Ostpreußen

OTTERNDORF. Mit einer Gedenkfeier am Labiauer Stein begann der zweite Tag des Treffens der Kreisgemeinschaft Labiau/Ostpreußen am Sonnabend in der Medemstadt. (sm)

Politik

Cuxland-CDU-Abgeordnete Weritz und Fühner im Interview

KREIS CUXHAVEN. Erst seit einem knappen Jahr gehören sie dem niedersächsischen Landtag in Hannover an. Von Egbert Schröder

Jahresversammlung

25 Jahre Voß-Gesellschaft: Treffen in Otterndorf

OTTERNDORF. Vor 25 Jahren wurde die Johann-Heinrich-Voß-Gesellschaft in Eutin gegründet. (red)