Nizar Mulazada hat nach seiner Flucht aus Afghanistan eine Festanstellung als Bäcker gefunden. Zahra Ghoreishy (M.) und Malale Nazari versuchen auf unterschiedliche Weise, sich beruflich und gesellschaftlich weiter zu integrieren. Auch Ghoreishys Mann hat inzwischen ein Job, einen Führerschein und Auto. Foto: Schröder
Nizar Mulazada hat nach seiner Flucht aus Afghanistan eine Festanstellung als Bäcker gefunden. Zahra Ghoreishy (M.) und Malale Nazari versuchen auf unterschiedliche Weise, sich beruflich und gesellschaftlich weiter zu integrieren. Auch Ghoreishys Mann hat inzwischen ein Job, einen Führerschein und Auto. Foto: Schröder
Zwischen Freiheit und Angst

Flucht aus Afghanistan: In Hemmoor fließen derzeit viele Tränen

von Egbert Schröder | 17.10.2021

HEMMOOR. Geflüchtete Afghanen sind zwiegespalten und zerrissen: Bei ihnen macht sich in Hemmoor ein Gefühl zwischen Freiheit und Angst breit.

Es ist ein Leben zwischen zwei Welten: Afghanische Flüchtlinge integrieren sich nach ihrer Flucht in Deutschland, sorgen sich jedoch um das Schicksal von Verwandten und Freunden in ihrem Heimatland, haben aber kaum noch Kontaktmöglichkeiten nach Afghanistan. Das Taliban-Regime hat die totale Kontrolle über das Leben der Menschen übernommen - und in Hemmoor fließen viele Tränen...

Wenn sie die Augen schließt, sind die Bilder da. Bilder von den Freunden und Familienangehörigen, die nicht rechtzeitig die Flucht aus Afghanistan geschafft haben und über deren Schicksal sie nichts erfahren hat oder auch wird. Nicht erst seit der kompletten Machtübernahme durch die Taliban über das Land hat Malale Nazari Albträume und versucht, diese auch durch Medikamente zu überwinden.

Seit fünf Jahren in Sicherheit

Sie selbst befindet sich seit 2016 in Deutschland gemeinsam mit ihrem Mann in Sicherheit. Doch was ist mit den Menschen, die in ihrem Heimatland in der Hoffnung auf ein besseres Leben geblieben sind oder denen die Flucht misslang?

Seit der kompletten Machtübernahme der Taliban durch den Rückzug der dort stationierten ausländischen Streitkräfte sind nicht nur die 37-Jährige und ihr Mann Nizar Mulazada völlig verunsichert, was sich in Kabul, das sie verlassen haben, abspielt: "Ich muss immer wieder daran denken, was dort jetzt passiert." Diese Unsicherheit verfolge sie Tag und Nacht. Eine Kontaktaufnahme? Nahezu unmöglich.

Das Schicksal ihres Vaters ist ihr dagegen sehr präsent: Vor rund zehn Jahren sei er nach einem Besuch in der Moschee von den Taliban erschossen worden. Aber warum löschte man sein Leben aus? "Ich weiß es nicht. Mein Vater war immer für unsere Familie da und hat gearbeitet." Sein Tod? Sinnlos - wie so vieles, was sich in Afghanistan ereignet habe und jetzt wohl ereigne. Denn die in den ausländischen Medien kommunizierten Informationen, dass die Taliban erst nach dem Abzug der alliierten Truppen die Macht über das Land hätten, seien falsch.

Mit der Familie nach Deutschland

Das weiß auch Zahra Ghoreishy (30), die 2015 die mit ihrem Mann und ihren Kindern nach Deutschland geflüchtet ist und hier inzwischen Fuß gefasst hat und selbstsicher wirkt. Ihr Mann ist bei einer Baufirma beschäftigt, sie selbst hat ihren Hauptschulabschluss geschafft und ihre Kinder besuchen die Schule. Sie spricht schon sehr gut Deutsch und hofft, nach ihren Sprachkursen, den Weiterbildungen und einem Praktikum auf eine Festanstellung im Einzelhandel. Ein weiteres Praktikum, das sie absolvieren und bei dem sie sich für einen Job als Verkäuferin empfehlen möchte, erfolgt im November.

Die Gedanken an die monatelange Flucht aus Kabul, die 2015 im Cuxland endete, weckt natürlich auch bei ihr Erinnerungen an die Zeit in Afghanistan. Wer glaube, dass erst jetzt die Machtübernahme durch die Taliban erfolgt sei, irre sich. Bereits zuvor hätten Frauen kaum Rechte gehabt; die Mädchen seien quasi vom Schulbesuch ausgeschlossen worden, wenn sich wohlhabende Eltern nicht den Unterricht in Privatschulen hätten leisten können.

Ihre Familie sei vorwiegend durch den Eigenanbau und Verkauf von Gemüse über die Runden gekommen: "Uns als Frauen war schon damals durch die Taliban eine Arbeit untersagt worden, das Haus zu verlassen."

In Deutschland erlebe sie eine ganz andere Welt. Sie ist dankbar dafür, betont aber auch: "Uns wird geholfen, aber wir wollen unser Leben in Freiheit selbst gestalten."

Mit den Nachbarn im Austausch

Dazu zähle eben auch die gesellschaftliche Teilhabe und die Einbindung in die Nachbarschaft und damit die gesellschaftliche Integration. Sie ist froh, dass ihr Mann bei einer Baufirma arbeitet, einen Führerschein und ein Auto besitzt und damit einen großen Beitrag leistet, dass die Familie in ihrer neuen Heimat Deutschland nach und nach Selbstvertrauen für ihre Zukunft tankt.

Vielen Verwandten und Bekannten im Herkunftsland Afghanistan geht es anders oder man wisse

- so Malale Nazari und Zahra Ghoreishy - schlichtweg nichts über ihren Verbleib und ihr Schicksal. Das sei eine große Belastung. Frauen und Kinder, deren Männer und Väter ums Leben gekommen seien, suchten Schutz bei Nachbarn oder Freunden - und brächten die dann ebenfalls in Gefahr. Erführen die Taliban etwas über ihren Aufenthaltsort, sei das Schicksal der Frauen und deren Kinder häufig besiegelt. Junge Frauen würden an bis zu 20 oder 30 Jahre ältere Männer verkauft; den männlichen Jugendlichen bleibe nur der Zwangsdienst an der Waffe für die Taliban, wenn ihnen nicht rechtzeitig die Flucht gelungen sei.

Engagement in der Kleiderkammer

Malale Nazari und Zahra Ghoreishy kennt die Hemmoorerin Manja Fritsche seit vielen Jahren aus der gemeinsamen Arbeit in der Kleiderkammer, wo sie sich engagieren und viele andere Geflüchtete treffen. Fritzsche ermutigt die beiden Frauen immer wieder, nicht auf Hilfe zur Integration zu warten, sondern selbst aktiv zu werden.

So sei es zwar toll, dass beide Männer einen Beruf bei einer Baufirma und einer Bäckerei hätten und einen Führerschein für ihren Wagen besäßen. Aber sie treibt Malale Nazari und Zahra Ghoreishy unter anderem auch an, selbst die Führerscheinprüfung abzulegen: "Mein Prinzip: Weiter, weiter, weiter ...", sagt sie mit Blick auf Integration und Selbstbestimmtheit.

Eine emotionale Belastung

In Deutschland leben die beiden afghanischen Familien in Freiheit und können ihr Leben aus eigenen Antrieb heraus selbst gestalten. Doch immer wieder werden sie von dem ungewissen Schicksal ihrer Freunde, Familien, Nachbarn und Bekannten in Afghanistan eingeholt: "Es ist und bleibt eine emotionale Belastung, wenn man eben nicht weiß, ob alle noch am Leben und gesund sind oder unter welchen Umständen sie in diesem abgeschotteten und von Taliban regierten Land leben müssen", so Fritzsche.

Es ist ein emotionaler Drahtseilakt zwischen der Freiheit in der neuen Heimat und der Ungewissheit um das Schicksal der Menschen, über die die Taliban als Machthaber entscheiden - oder schon längst entschieden haben, ohne dass sie es wissen ...

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Egbert Schröder

Redakteur
Cuxhavener Nachrichten/Niederelbe-Zeitung

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