
Flüchtlingscamp in Otterndorf: Fünf Jahre ist es her
OTTERNDORF. Erinnerungen werden wach, es ist genau fünf Jahre her: Die Sommerferien 2015 waren gerade zu Ende, das Sommerlager der Stadt Hannover in Otterndorf-Müggendorf sollte auf Winterruhe umgeschaltet werden.
Dann kam der Hilferuf aus dem Innenministerium in Hannover. Wohin mit den vielen Geflüchteten? In Windeseile über Nacht entstand hinterm Elbdeich aus dem Ferien- ein Flüchtlingscamp. Zwei Monate im Herbst, in denen Willkommenskultur und Mitmenschlichkeit zur gelebten Wirklichkeit wurden und Geflüchtete bei uns einen ersten sicheren Hafen fanden.
Durch Bomben geweckt
Sie haben es geschafft und sind hier mitten in der Gesellschaft angekommen. Fremd fühlen sie sich nicht. Das haben sie niemals getan. Der Universitätsdozent (32) und die Englischlehrerin (30) aus Damaskus bauten auf ihren in der Heimat gelegten Grundlagen auf. Rüstzeug, in Europa Fuß zu fassen, boten ihnen Studien- und Berufsabschlüsse sowie die Fähigkeit, sich fließend Englisch zu verständigen.
Palästinenser
Die Palästinenser aus der syrischen Hauptstadt haben mit der ihnen eigenen Zielstrebigkeit ehrgeizig und konsequent von Beginn an Deutsch gelernt und sich mittlerweile ein komplett neues Leben aufgebaut - nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, wo sie vor fünf Jahren landeten. In Cadenberge fühlen sie sich wohl. Sie wohnen heute mit ihrer im Dezember 2016 in Stade geborenen Tochter Cila in einer großzügigen Vierzimmerwohnung. "Das bedeutet für uns Luxus."
Amer unterrichtet als Englischlehrer an den Berufsbildenden Schule zwölf Klassen. Seine Frau Hadil fängt in diesen Tagen wieder bei der VHS als Dozentin an und gibt Deutschkurse für Anfänger. Ihre Hoffnung auf eine Festanstellung, die ihren Qualifikationen entspricht, hat sie noch nicht aufgegeben.
Camp hinterm Elbdeich
Unvergessen bleiben ihre 45 Tage im Camp hinterm Elbdeich. Hadil und Amer waren glücklich, endlich in Deutschland und in Sicherheit zu sein. "Wir kamen nur mit unserem Rucksack und unseren schrecklichen Erinnerungen an den Krieg." Zuerst sollte Hadil nicht nur mit ihrem Ehemann, sondern acht fremden Männern im Zelt übernachten. Nachdem sich Gaby Behrens von den Johannitern eingeschaltet hatte, waren es schließlich "nur" noch zwei andere Männer.
Der Start des Otterndorfer Flüchtlingscamps war kurz zuvor emotional aufgeladen. Am Abend des 4. September 2015 landeten die ersten Busse mit Flüchtlingen in Müggendorf. Aber die übernächtigten, erschöpften Flüchtlinge wollten bei Regen, Wind und Dunkelheit nicht aussteigen - und schon gar nicht Zelte beziehen, sondern in festen Häusern untergebracht werden. Es kamen Familien, aber auch viele alleinstehende junge Männer hatten ihr Ziel Deutschland erreicht. Hinter vielen lag ein beschwerlicher und gefährlicher Weg meist über die Türkei-Griechenland-Balkan-Route. Erst durch das Verhandlungsgeschick des Samtgemeindebürgermeister Harald Zahrte ließen sich die Menschen doch dazu bewegen aus den Bussen zu steigen. Einige Tage später intervenierte er ein weiteres Mal erfolgreich beschwichtigend und glättete die Wogen, als es um die Auszahlung von Taschengeld ging.
Leben im Camp
Wie die meisten anderen gewöhnten sich Hadil und Amer sich schnell an das Leben im Camp. Sie fielen von vornherein positiv auf, denn sie halfen vom ersten Tag an aktiv mit, damit dort das Leben rund laufen konnte. Es war schon damals ihr Ausdruck für Dankbarkeit den Gastgebern gegenüber. Wenn man etwas bekommt , muss man auch etwas geben - für die beiden war dies selbstverständlcihes Handeln..
Ganz schnell hatte sich im Herbst 2015 im Camp so etwas wie Alltag eingestellt. Die Geflüchteten tankten sichtlich Kraft und erholten sich von den Strapazen. Kinder karrten mit Rollern und Rädern über das großzügige Gelände, Männer trafen sich zum Rauchen und Reden vor der Niedersachsenhalle, Frauen hängten Wäsche auf die zwischen den Zelten gespannten Leinen, Jugendliche fuhren unter DLRG-Aufsicht auf dem See Tretboot.
Einsatzleiter Thorsten Ernst
Verantwortlich für das Camp waren die Johanniter mit ihrem Einsatzleiter Thorsten Ernst. Praktisch, pragmatisch und professionell packten er und sein Team die Aufgaben an und arbeiteten sie nach Prioritätenliste ab. Eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft geriet ins Rollen. Willkommenskultur war keine Worthülse, sie wurde seinerzeit von den Menschen gelebt.
In Otterndorf stellten ehrenamtliche Helferinnen und Helfer aus dem Nichts die funktionierende Kleiderkammer im alten Feuerwehrhaus auf die Beine. Campbewohner wurden in Shuttlebussen von ehrenamtlichen Kräften dorthin gefahren. Zahlreiche Helfer fanden den Weg ins Camp selbst. An der Tagesordnung im Neun-Nationen-Dorf hinterm Elbdeich waren ehrenamtliche Übersetzungsdienste von hier lebenden Migranten oder Deutschstunden hilfsbereiter Unterstützer. Die Capio-Klinik stellte die medizinische Versorgung sicher, die Kirche richtete einen Kindergarten ein.
Hilfsbereitschaft
Die großartige Hilfsbereitschaft der Menschen werden Amer und Hadil niemals vergessen. "Die Menschen waren so nett zu uns und haben uns geholfen." Amer erinnert sich besonders lebhaft an seine Gespräche mit Apotheker Klaus Michaels und dessen Tochter Luisa, während Hadil gern zurückdenkt an die Frau, die ihr aus der Kleiderkammer den Koffer mitgegeben hatte. "Für mich wird sie immer Frau Koffer bleiben." Die einst nagelneuen Turnschuhe, die Amer für die Teilnahme am Küstenmarathon erhalten hatte, existieren immer noch. "Ich trage sie jetzt im Fitnessstudio", schmunzelt er.
Beruflich läuft bei ihm alles rund. Sein Referendariat hat er erfolgreich absolviert. "Der Job als Lehrer ist mein Traumjob", versichert er. Und schon hat er sich selbst die nächste Messlatte gelegt für die Zukunft in Deutschland: Er strebt eine Verbeamtung an, aber dazu muss er die deutsche Staatsangehörigkeit nachweisen. Mit der Beantragung müssen Hadil und Amer allerdings noch zwei Jahre warten. Bis dahin stehen sie weiter unter subsidiärem Schutz. Solchen Status erhalten Personen, denen im Rahmen des Asylverfahrens weder Flüchtlingsschutz noch Asylberechtigung zuerkannt wurde, denen im Herkunftsland aber durch Krieg oder Bürgerkrieg ernsthafter Schaden droht.
Cadenberge
Ihr Sonnenschein Cila kann in Cadenberge fern von Krieg, Gewalt und Gräuel in Frieden und Freiheit aufwachsen. Mit ihren Eltern spricht sie arabisch, während sie im Kindergarten Deutsch lernt. Als echter Integrationsglücksfall haben sich frühere Nachbarn entpuppt. "Sie sind für Cila Oma und Opa, haben die ganze Welt gesehen, sind gebildet gesehen - und wir lieben sie auch wie unserer eigenen Eltern.", freuen sich Hadil und Amer dass ihre Tochter dank dieser Verbindung in der deutschen Kultur groß werden kann.