
Geschlossenes Krankenhaus in Cuxhaven: "Das Gelände war ein Paradies"
CUXHAVEN-SAHLENBURG. Die Jahre, in denen er auf dem Gelände des Seehospitals wohnte, empfindet Gerd Schwing aus Cuxhaven noch heute als schönste Zeit seiner Kindheit.
Der Wald, die vielen versteckten Ecken, die Krankenpavillons und überall Menschen, die einen kannten: Die Kinderzeit auf dem Gelände des Seehospitals, empfindet Gerd Schwing noch heute als schönste Zeit seiner Kindheit. "Wobei wir nie Seehospital gesagt haben. Für Cuxhaven hieß es immer nur ,Nordheim-Stiftung‘", erzählt er.
Erste bewusste Autofahrt
Seine erste bewusste Autofahrt erlebte Gerd Schwing auf dem Weg vom Cuxhavener Bahnhof zur Nordheim-Stiftung in Sahlenburg. Das war im Juli 1947, er war drei Jahre alt und saß mit seiner Mutter, Bruder und Schwester (sieben und sechs Jahre) in einem Dienstwagen der Klinik.
Dort hatte sein Vater schon als examinierter Krankenpfleger zu arbeiten begonnen. Dieses Arbeitsverhältnis verhalf der aus Schlesien geflüchteten Familie überhaupt nur zur Ausreise aus der sowjetisch besetzten Zone. Erste Station war Thüringen gewesen.
Baracke war besser als nichts
Auf dem Klinikgelände bezog die Familie eine Barackenwohnung. "Ein Raum, eine kleine Küche", erinnert sich Gerd Schwing. "Aber wir waren froh, dass wir ein Dach über dem Kopf hatten." Die andere Hälfte der Baracke bewohnte Pfleger Martens.
Ein großer Teil der damaligen Patienten litt an Tuberkulose. Tragischerweise steckte sich der Vater bereits im Jahr 1948 damit an und verbrachte viele Jahre in einem Sanatorium getrennt von der Familie. Gerd Schwing erinnert sich aber auch daran, dass sein Vater kurzzeitig in Sahlenburg (vermutlich im Haus zur Sahlenburg) untergebracht war und ihnen aus einem Fenster herunterwinkte. Damit die Familie ihr Wohnrecht im Krankenhaus bewahrte, arbeitete die Mutter fortan dort als Reinmachefrau.
Alles ganz lebendig
Zunächst aber erkundeten die Schwing-Geschwister unbeschwert ihre neue Umgebung. Sie spielten mit den Kindern der anderen Bediensteten oder mit Patientenkindern, die zum Beispiel wegen orthopädischer Probleme (auch nach überstandener Kinderlähmung), dort waren. "Es ist verrückt, ich kann mich an so vieles erinnern, auch an so viele Namen", sagt Gerd Schwing. "Die Erinnerung ist lebendiger als an jeden anderen Teil meiner Kindheit."
"Ein Paradies" sei es gewesen. Die Kinder durften überall spielen, stundenlang. "Verbote gab es wenige." Nur die Infektionsstation war tabu. "Ansonsten hatten wir Kontakt zu Patienten, haben an die Fenster geklopft und uns gefreut, wenn sie reagierten", so der Butscher von damals. "Wir hatten ja nichts. Wenn wir zu Oberschwester Ilse Kipp ins Büro gingen, hatte sie immer etwas für uns in der Bonschedose."
Auch der damalige Chefarzt Dr. Ulmann ("ein ganz nahbarer, fantastischer Mann") habe sich immer gefreut, sie zu sehen. Dessen Hund "Bärchen" hätten alle sehr geliebt.
"Doktorwald" und "Doktorberg"
Mitten im Wald befand sich das "Doktorhaus", in dem verschiedene Ärzte wohnten. Den Wald daneben nannten die Kinder folglich den "Doktorwald" und den zugeschütteten Bunker darin den "Doktorberg". Bäumeklettern war eine große Sache, wenn die Kleinsten auch darauf achten mussten, dass sie sich Exemplare aussuchten, deren Zweige bis auf den Boden reichten.
Aufregend waren auch die Bunker (Gerd Schwing weiß von mindestens zweien) hinter dem Mathilde-Emden-Haus, auf dessen Dach noch aus Kriegszeiten ein gemaltes großes rotes Kreuz prangte.
"Komisch, nur zum Strand gingen wir nur ganz selten", überlegt Gerd Schwing. Für die Kinder war wohl der Wald viel attraktiver und auch seine Eltern hätten es nie so mit Wasser gehabt.
Selbstversorgung war üblich
Neben der Wohnbaracke befand sich die kleine Landwirtschaft der Klinik und gegenüber eine Koppel für Pferd Fanny (oder Funny? Man weiß es nicht...). "Die dort ebenfalls gehaltenen Schweine wurden mit dem übrig gebliebenen Klinikessen gefüttert", so Gerd Schwing. Das Schlachten hätten sie als Kinder nie mitbekommen, die weitere Verarbeitung dann aber schon.
Auch die von ihnen selbst an der Baracke gehaltenen Hühner und Kaninchen habe immer das Personal der Landwirtschaft geschlachtet, bevor diese auf dem Tisch der Familie gelandet seien. Manchmal durften Gerd und seine Geschwister auch mit ihrem Kochgeschirr Essen in der Krankenhauskantine abholen. Fisch brachte ab und zu Bernhard Christiansen mit, der Hallenmeister beim Seefischmarkt war.
Garten im Wald
Mitten im Wald befand sich außerdem ein kleiner Garten, aus dem sie sich ernährten. Spaziert Gerd Schwing heute durch das Gelände, sind davon allenfalls noch Konturen zu erahnen, vielleicht hat auch der eine oder andere Obststrauch von damals überdauert.
Meerschweinchen für Laborzwecke
Das Haus der Landwirtschaft steht noch. Angeschlossen war ein Stall für Pferd Fanny. Außerdem waren Wagen und Gerätschaften dort untergebracht. Alle Fahrten wurden mit Pferd und Wagen erledigt. Gerd Schwing weiß, dass dort auch Meerschweinchen für Laborzwecke gehalten wurden.
Er sieht außerdem noch die Trecker vor sich, die die Bäume aus dem Boden zogen, als sich das Klinikgelände veränderte und neue Häuser gebaut wurden. Später entstand auch der Chefarztbungalow für Dr. Schulze.
Für die Kinder waren die Bauarbeiten, wo immer mal Reste anfielen, eine Gelegenheit, sich ein bisschen Taschengeld zu verdienen. Die eingesammelten Metallreste verkauften sie bei Machulez in der Nordheimstraße. "Wir Kleinen kamen da natürlich nicht zum Zuge. Wir durften allenfalls mal einen kleinen Tipp geben."
Einrichtungen auf dem Gelände
An der Ecke Nordheimstraße/Flockengrund beherbergte der Gasthof Heidehof oft Besucher von Patienten. Auch die dortige Bushaltestelle trug den Namen Heidehof. Auf dem Krankenhausareal gab es eine kleine Kantine und einen Laden (von Zöfel), wo die Besucher Kleinigkeiten einkaufen konnten.
Die kleine Schule gab den Patientenkindern ein Gefühl von Normalität. Auch eine Schwesternschule bestand dort, Gerd Schwing kennt noch Schulschwester Anni. Viele Angestellte - Verwaltungskräfte ebenso wie Ärzte - wohnten in Dienstwohnungen. Oberärztin war eine Frau Dr. Dethlefsen. Die untersuchte die Kinder auch bei Alltagswehwehchen: "Einen Hausarzt kannten wir gar nicht."
Kollision auf dem Klinikgelände
Einmal wurde sein Bruder beim Fahrradfahren auf dem Gelände durch ein Auto erfasst. "Der Fahrer sagte, er wolle nichts draus machen und verabschiedete sich schnell. Jetzt wissen wir natürlich, warum. Der hatte meinem Bruder schlicht die Vorfahrt genommen", so Gerd Schwing. Seine Mutter sei in heller Aufregung gewesen, aber die Verletzung sei zumindest folgenlos ausgeheilt.
Die Tageszeitung wurde per Fahrrad geliefert, und ein Fahrrad sparte sich auch bald seine Mutter zusammen. Auf diesem Rad lernte der kleine Pöks Gerd schon früh das Fahrradfahren.
Politisch gehörte das Seehospital zu Cuxhaven und die Gemeinde Sahlenburg noch zu Hadeln. Als Gerd Schwing 1950 eingeschult wurde, wurde er der Stickenbütteler Schule ( im späteren Wrackmuseum in der Dorfstraße) zugeteilt. Das war ein weiter Fußweg - die ganze Nordheimstraße hoch und über den Galgenberg.
Ordentlich durchgeschüttelt
Zum Glück fuhr täglich ein Kleinlaster - ein Opel Blitz - in die Stadt, um Besorgungen zu machen und die Post zu holen. Da war es immer ein großes Glück, wenn der Fahrer Finck morgens wartete und sie auf der Ladefläche unter dem Stoffverdeck Platz nehmen durften, auch wenn sie auf dem Kopfsteinpflaster des Galgenbergwegs ordentlich durchgeschüttelt wurden.
Wenn Chefarzt Dr. Ullmann in der Stadt zu tun hatte und der Schulschluss bevorstand, ließ er Krankenwagenfahrer Kruschke regelmäßig einen Umweg über Stickenbüttel machen, um die Schulkinder einzusammeln.
Fahrer und Schaffner im Bus
Es gab noch eine andere Möglichkeit: Die Cuxhavener Omnibus-Verkehrsgesellschaft (COG) bediente die Linie Stickenbüttel-Brockeswalde-Seehospital. "Damals waren die Busse noch mit einem Fahrer und einem Schaffner besetzt. Bei Schaffner Jürgens durften wir oft mitfahren - natürlich, ohne zu bezahlen. ,Aber erst singen!‘, sagte er immer", lacht Gerd Schwing. Dafür hatten sie extra ein Juxlied erdacht.
Einmal löste eine vermeintlich gute Tat ordentlich Aufregung aus. Wieder mal war eine Ladung ausgedienter Gipse an der Müllkippe nahe dem Galgenberg abgeladen worden. Als die Bediensteten die "Nordheim"-Kinder auf dem Weg nach Hause erblickten, ließen sie diese einsteigen - aber hinten, dort, wo die Gipse der zum Teil infektiösen Patienten gelegen hatten.
Die Umstehenden seien fast umgefallen, als sie am Ziel aus dem Fahrzeug gesprungen seien, schmunzelt Gerd Schwing. Folglich lautete das Kommando an seine Mutter: "Baden, Frau Schwing, Baden!" Zum Glück sei alles gut gegangen.
Fahrt in die Stadt war eine Reise
Eine Fahrt mit dem Bus in die Stadt zum Kaufhaus Thams und Garfs war eine Reise. Dorthin fuhr man mit dem Bus oder nutzte eine Mitfahrgelegenheit.
Im Jahr 1951 zog die Familie nach Stückenbüttel. Nun erst konnte Gerd seinen Vater richtig kennenlernen, dessen Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt worden war und der nun als kaufmännischer Angestellter arbeitete, später sogar über das übliche Rentenalter hinaus.
1964 kam Gerd Schwing als 20-jähriger wieder mit dem Seehospital in Kontakt, diesmal als Patient. Einige Beschäftigte von damals waren noch da. Zwei Monate lang - von Oktober bis zum 23. Dezember - verbrachte er nach einer Rückenoperation liegend im Gipsbett (vom Kopf bis zum Knie fixiert), und selbst daran hat er positive Erinnerungen.
Das liege am tollen und menschlichen Personal. Einmal am Tag umgedreht zu werden und den Rücken abgerieben zu bekommen, war schon ein Höhepunkt und eine Wohltat. "An Fernsehen oder andere Annehmlichkeiten war ja nicht zu denken!"
Eichhörnchen am Bett
Mit Erdnüssen konnte er die Eichhörnchen, die immer vor den Fenstern herumflitzten, an sein Bett locken. Auch die vom Bettnachbarn Johann organisierte Flasche Bier wurde nicht beanstandet, sondern der Arzt bewunderte noch sein Talent, daraus im Liegen zu trinken.
In der Weihnachtszeit versorgte ihn Schwester Hertha mit Bastelmaterial, aus dem Gerd Kerzentransparente anfertigte. Die Besuchsregeln seien sehr großzügig gewesen. Zu den Besucherinnen gehörte auch Chefarzttochter Dagmar Schulze, die in dem kurz zuvor von Gerd und Detlef Schwing gegründeten Club MC Möve Cuxhaven-Sahlenburg Minigolf spielte.
Menschlichkeit, tolle Pflege und Zuwendung seien ihm auch bei späteren Aufenthalten dort immer wieder begegnet. Er gehörte zu den Patienten, die noch in ihren Betten über das Gelände zu Untersuchungen und Operationen geschoben wurden - oft an blühenden Heckenrosen vorbei, deren Duft bis in die Krankenzimmer strömte. Modern wurde es dort erst mit dem Bau des Bettenhauses zwischen 1995 und 1997 und dem des OP-Traktes im Jahr 2003.
Wer erinnert sich noch?
Am 31. Dezember 2021 ist der Betrieb im heutigen Helios-Seehospital eingestellt worden. Die medizinischen Disziplinen, ärztliches und Pflegepersonal sind in die Helios-Klinik Cuxhaven übergangen. Es bleiben die Erinnerungen an die 115-jährige Krankenhausgeschichte.
Wir suchen Menschen, die diese mit uns teilen - Ehemalige, Beschäftigte, Patientinnen oder Patienten. Wer hat noch Fotos oder Erinnerungen? Kontakt: mreese-winne@cuxonline.de oder Telefon (0 47 21) 585 391.