"Norddeutsches Philharmonisches Akkordeon-Orchester Cuxhaven" gegründet
CUXHAVEN. Wer sich in diesen Tagen dem Studio des Cuxhavener Dipl. Foto-Designers Norbert Balzer am Stickenbütteler Weg näherte, wird erstaunt anstatt des Klickens von Kameraverschlüssen symphonische Klänge ganz eigener Art vernommen haben: Die von Akkordeons. Aber was hat der Foto-Künstler Balzer mit diesem Instrument zu tun? Er sei seinem eigentlichen Metier keineswegs untreu geworden, so Balzer gegenüber den CN: "Aber es geschehen Dinge, die dem Leben eine neue Facette hinzufügen und einen vor neue Herausforderungen stellen."
Und die haben mit dem Akkordeon zu tun. Weil er nach 40 Jahren Fotografie genügend Erfahrung hat, um sich Freiräume für neue Aufgaben zu schaffen, ohne dass dabei die berufliche Seite zu vernachlässigen, hält Balzer gelegentlich Vorträge, die nicht nur mit seinem Beruf zu tun haben, sondern auch Themen behandeln, für die er sich sonst noch interessiert. Beim Thema Akkordeon habe ihn gereizt, "dem doch vielfach missverstandenen Instrument ein Forum zu geben und den üblichen Klischees, die sich mit dem Akkordeon landläufig verbinden, die tatsächliche Stellung dieses Instruments entgegenzusetzen."
Denn wer das Akkordeon nur als sogenanntes Volksmusik-Instrument begreift, ist nicht auf der Höhe der Zeit. Das Akkordeon hat längst die Nische der Shantys und Jodler verlassen und ist europaweit auf dem Weg in die Konzertsäle, so Balzer. Das hat einerseits mit den technischen Fortschritten im Akkordeonbau zu tun, andererseits hat das zusammenwachsende Europa auch den Blick in Gefilde ermöglicht, die uns bisher wenig zugänglich waren, z.B. in die musikalischen Traditionen Russlands:
"Erst nach dem Ende der früheren Sowjetunion konnten z.B. russische Virtuosen ungehindert nach Westeuropa reisen und uns zeigen, was auf dem Akkordeon möglich ist, und das ist tatsächlich viel mehr, als sich viele Menschen überhaupt vorstellen konnten. Das vorerst letzte und beeindruckendste Beispiel ist der junge Akkordeonist Denis Patkovic, der - man höre und staune - die Goldberg-Variationen auf dem Akkordeon eingespielt hat, und prompt von der Kulturredaktion der Süddeutschen Zeitung die Auszeichnung Klassik-CD des Jahres 2008 erhalten hat."
Norbert Balzer selber hat als Kind Unterricht gehabt, dann aber das Instrument in die Ecke gestellt, weil in der aufkommenden Beat- und Rockmusik-Ära die E-Gitarre eindeutig den Ton angab und das Akkordeon eher belächelt wurde. Den Anstoß, nun nach Jahrzehnten wieder zum Akkordeon zurückzufinden, gab ein Vortrag über das Akkordeon und seine derzeitige Stellung in der Musikwelt im Rotary Club. Im Anschluss daran gab er mit zwei weiteren Musikern ein kleines Live-Konzert und die Resonanz war dermaßen positiv, dass er überlegte, ob sich mehr daraus machen lasse.
Was daraus geworden ist, zeigt das obige Foto: Darauf ist ein Teil des "Norddeutschen Philharmonischen Akkordeon-Orchesters" bei der Probe zu sehen: "Der Anfang war das Trio, aber meine Idee war ein richtiges Orchester, weil ich der Ansicht bin, so etwas fehlt hier in unserer Region, und es reizt mich eben, Dinge zu bewegen, die abseits des bekannten Mainstreams liegen. So war es mit der Fotografie in den 60er-Jahren als sie noch als Handwerk abqualifiziert wurde, und so ist es mit dem Akkordeon heute - ein weithin unbeackertes Feld, das es lohnt, bearbeitet zu werden.
Seit dem ersten Auftritt im Februar dieses Jahres ist kaum ein Jahr vergangen und diese Entwicklung "grenzt an ein kleines Wunder, mit dem ich in dieser Konsequenz selbst nicht gerechnet hatte", staunt Balzer. Aber offenbar hat das Konzept eines Orchesters mit einem am Barock und der Wiener Klassik orientierten Repertoire eine eigene Dynamik und Zugkraft entwickelt. Natürlich reicht auch das Gebiet, aus dem sich die Musiker und Musikerinnen rekrutieren, weit über die Grenzen des Landkreises hinaus: Hervorragende Musiker und Musikerinnen aus Baden-Württemberg, Schleswig Holstein, Hamburg und den angrenzenden Gebieten Niedersachsens sind bereits dabei und es stehen schon weitere Interessenten vor der Tür.
Ziel der Orchesterarbeit ist es, mit diesem Akkordeon-Orchester klassische Werke aufzuführen, die für große Symphonieorchester komponiert wurden. Balzer räumt ein, dass dies auf den ersten Blick vermessen klingt, aber "das Akkordeon ist für viele Überraschungen gut. Und bei allem Respekt vor den Werken der alten Meister: Es hat inzwischen sogar schon eine Aufführung von Beethovens 5. Symphonie mit einem süddeutschen Akkordeon-Orchester gegeben. Im Übrigen macht man ja Streichorchestern oder Bläser-Ensembles auch nicht den Vorwurf, sich an der Klassik zu vergreifen."
Ein Problem in diesem Zusammenhang ist, dass - in vielen Köpfen fest als "Stimmungsinstrument" verankert -, der Gedanke, klassische Werke auf dem Akkordeon zu interpretieren erst einmal fremd ist. Das Akkordeon hat aber laut Balzer gerade in dieser Hinsicht viele Vorteile zu bieten: "Es atmet durch den Balg wie der Mensch durch seine Lunge. Die Tonerzeugung ist ebenfalls dem menschlichen Stimmapparat ähnlich, indem Stimmbänder und Stimmzungen zum Schwingen gebracht werden. Daraus ergeben sich besondere Möglichkeiten der Tongestaltung, die andere Instrumente nicht haben."
Anfangs war es gar nicht so leicht, Musiker für das Orchester zu finden. Es meldeten sich viele Interessenten, die aber entweder keine Lust hatten, dieses Konzept mitzutragen oder sich überfordert fühlten. Inzwischen sagt Balzer: "Es hat sich besser entwickelt als anfangs vermutet. Natürlich muss man sich Musiker suchen, manchmal per Inserat, aber inzwischen kommen auch schon welche durch Empfehlung von dritter Seite. Dazu gehört aber auch ein tragfähiges musikalisch-künstlerisches Konzept, das Anreize bietet mitzumachen. Und ich bin sehr froh, dass dieses Konzept bis jetzt aufgegangen ist, sowohl künstlerisch als auch von den Persönlichkeiten her.
Zudem haben wir mit unserem Dirigenten Andreas Brandes einen ausgewiesenen Fachmann gefunden, mit dem das Orchester bestens harmoniert. Das wird uns weiter beflügeln. Brandes ist übrigens der Leiter der Musikschule in Bremerhaven.
Bei einem Orchesterprojekt, das auf längere Sicht angelegt ist, stellt sich auch die Frage des Nachwuchses. Balzer ist sich dessen bewusst: "Das ist tatsächlich eine existenzielle Frage für viele Orchester und wir suchen auch nach wie vor weitere Mitspieler. Im Übrigen betrifft dieses Problem ja nicht nur ein Orchester wie unseres."
Zur Zeit planen Norbert Balzer und seine rund 20 Musiker-Kollegen im neuen Orchester die ersten öffentlichen Auftritte. Stellt sich die Frage, welches Publikum das Ensemble für sein Konzept eines klassischen Akkordeon-Orchesters gewinnen kann.
Norbert Balzer sieht sich bei dieser Frage in bester Gesellschaft, denn "das ist eine der meist diskutierten Fragen in der Akkordeonszene überhaupt. Viele Orchester machen den Versuch, im Konzertprogramm jedem etwas bieten zu wollen, dem Liebhaber der Volksmusik ebenso wie dem Klassik-Freund. Die Gefahr dabei ist aber, dass die Erwartungen des auf diese Weise gemischten Publikums enttäuscht werden, denn der Volksmusik-Fan wird sich keine Scarlatti-Sonate anhören wollen und den Liebhaber klassischer Musik wird der Schneewalzer aus dem Saal treiben.
Unser Konzept ist auch da anders: Die Konzerte stehen unter einen bestimmten Thema, das kann im Sommer gehobene Unterhaltungsmusik sein. z.B. mit Melodien aus Musical und Operette. In der Vorweihnachtszeit darf es dann ruhig getragener zugehen. Werke von Bach, Händel oder Scarlatti bieten sich da an.
Unser Neujahrskonzert im Januar 2010 wird ein gutes Beispiel für dieses Konzept sein. Es lehnt sich im Programm stark an das Vorbild des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker an mit Werken von Strauß, Mozart, Bach, Brahms, Ravel und Haydn. Mehr wollen wir aber noch nicht verraten.
Im Übrigen hoffen wir, auch den Klassik-Freund davon überzeugen zu können, dass das Akkordeon durchaus in der Lage ist, auch in diesem Genre zu bestehen. Wer sich ohne Vorurteile dieser Erfahrung hingibt, wird vielleicht einen Gewinn mitnehmen und sei es nur den, dass er das Akkordeon künftig mit anderen Augen sieht." (cn/ters)