Otterndorfer Psychologe erklärt: Nicht ermittelte Täter sind Belastung
KREIS CUXHAVEN. Noch nicht abgeschlossenen Kriminalfällen in dieser Region, aber auch spurlos vermissten Personen widmet sich unsere Serie "neu aufgerollt". Ein Otterndorfer Psychologe erklärt im Interview Gedankengänge bei Hinterbliebenen.
Opfer solcher Fälle sind aber immer auch Hinterbliebene. Aus fachlicher Sicht als Psychologe und Psychotherapeut beschreibt der in Otterndorf lebende und praktizierende Prof. Dr. Lothar Wittmann, was Angehörige erleiden, die zum Beispiel nicht Abschied nehmen können, weil eine nahestehende Person spurlos verschwunden bleibt. Und er macht auch deutlich, warum Angehörigen als Nebenkläger in Gerichtsprozesse aussagen sollten.
Was erleiden Angehörige, die nicht Abschied nehmen können, weil eine nahestehende Person spurlos verschwunden bleibt und ein Verbrechen nicht ausgeschlossen werden kann? Wo und in welcher Form können Angehörigen Hilfe finden, so etwas zu verarbeiten? Ohne die Chance auf Abschied schwingt soch sicherlich immer die Hoffnung auf ein gutes Ende mit.
Professor Wittmann: Auch hier gilt, dass die Hoffnung zuletzt stirbt. Genau dies kann aber dazu führen, dass Angehörige nicht "loslassen" und sich mit immer neuen, letztlich falschen Hoffnungen weiter im Krisenmodus bewegen und ihr eigenes Leben nicht mehr leben. Wenn sich Menschen dann verkämpfen mit Vorwürfen gegen die Polizei, eventuell. windige Privatdetektive engagieren und andere teuere Helfer suchen, kommen sie nicht zum Abschiednehmen sondern halten die Illusion aufrecht, der oder die Gesuchte, könnte plötzlich vor der Türe stehen. Besser ist es im Selbsthilfezusammenhang, Verstehen und Unterstützung zu suchen und die Opfer- und Angehörigenhilfe etwa des Weißen Rings in Anspruch zu nehmen. Wenn die "gesunde Resignation" nicht gelingt, ist anzuraten, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Medikamente können nur in einer aktuellen Krise helfen. Mittel- und langfristig schaden sie nur und stören die Trauerbewältigung.
Aber auch über andere Fälle berichten wir. Zum Beispiel über die so genannten Discomorde, bei denen junge Frauen umgebracht wurden. In den meisten Fällen gab es keine Ermittlungserfolge - also die Täter bleiben auch 30 Jahre später weiterhin unerkannt und könnten weiterhin hier in der Region leben.
Wittmann: Manche unerkannte Verbrecher leben mitten unter uns. Bei Tötungsdelikten sind sie meistens nur Einmaltäter. Frappierend ist immer wieder, wie neu aufgerollte "cold cases" zeigen, dass die bürgerliche Fassade von Tätern oft jahrzehntelang hält. Damit müssen wir wohl leben.
Wenn jedoch ein geliebter Mensch Opfer eines solchen Tötungsdeliktes geworden ist, welche psychischen Auswirkungen hat dies auf enge Verwandte und Freunde? Sie müssen schließlich mit dieser Gewissheit weiterleben.
Wittmann: Der Verlust eines Angehörigen durch eine Gewalttat ist mit einem gewöhnlichen Verlust durch Krankheit nicht vergleichbar, Auch ein Unfalltod wird anders erlebt. Da hat man immer noch ein "Schicksal", "Pech", "Fahrlässigkeit" zur Erklärung. Das ändert sich sofort, wenn man an Autoposer denkt, wo also die völlige Sinnlosigkeit des Todes die Angehörigen überrollt.
Und gibt es wirksame Strategien und Hilfsangebote Wege aus dem Leid heraus zu finden? Und gibt es wirksame Strategien und Hilfsangebote Wege aus dem Leid heraus zu finden? Macht es dabei Unterschiede, ob der Täter ermittelt wurde oder nicht?
Wittmann: Viele Angehörige werden durch die Willkürerfahrung und die Ohnmacht des gewaltsamen Todes einer oder eines Nächsten selbst traumatisiert und sollten Opferhilfe suchen zum Beispiel beim Weißen Ring und Opferanwälte nach Paragraf 395 der Strafprozessordnung. So bekommen sie Akteneinsicht, die wichtig ist für die Fragen der Angehörigen. Zum Beispiel: Hat das Opfer gelitten, was war der Anlass der Tötungshandlung, warum gab es keine Hilfe. Psychotherapeutische Hilfe ist hier auch sinnvoll, das setzt aber voraus, dass die betroffenen Angehörigen diese Hilfe selber wollen. Psychotherapie kann hier nicht "heilen", sie kann nur im Umgang mit der Trauer helfen und bei neuen Belastungen den Stress puffern helfen - etwa in kritischen Nebenklagesituationen.
Ist es für nahe Angehörige von Bedeutung zu wissen, wer der Täter war? Schaffen sie es dadurch, das Verbrechen anders zu verarbeiten, wenn sie zum Beispiel in einem Prozess als Nebenkläger auftreten können und dabei dem Täter ins Gesicht zu schauen?
Wittmann: Nicht ermittelte Täter sind eine lebenslange Belastung. Deshalb ist es gut, dass heute mit Mitteln der DNA-Analyse sogenannter "cold cases" neu aufgerollt werden. Und es ist gut dass der Gesetzgeber Mord aus der Verjährung genommen hat. Angehörige sollten als Nebenkläger eintreten. Das kann man mit und ohne Anwesenheit im Prozess betreiben und es braucht fachkundige Hilfe von einem strafrechtlich spezialisierten Anwalt. Der kann auch aufklären, wieweit die Kosten vom Täter getragen werden müssen beziehungsweise wieweit Prozesskostenhilfe gewährt wird. Der Weiße Ring ist hier ein erster Ansprechpartnern. Nebenklage hilft die Tat zu verstehen. Eine Konfrontation mit dem Täter ist nicht in jedem Falle anzuraten. Man sollte es nicht unbegleitet und unvorbereitet tun. Die rechtsstaatlichen Prozeduren schaffen sehr viel Aufmerksamkeit für den Täter und wenig für die Opfer. Täter wirken oft emotional kalt, zynisch und gleichgültig. Das sollten sich Angehörige nur antun, wenn sie darauf vorbereitet sind und die Mechanismen deutscher Strafprozesse verstanden haben. Sie müssen zum Beispiel auch wenig glaubwürdige Entschuldigungen ertragen, die aus taktischen Gründen erfolgen und immer von Verteidigerseite mit "blame the victim" - also dem Opfer Schuld zuzuschieben - rechnen. Die Emotionalisierung, die wir aus amerikanischen Gerichten kennen, die Opferangehörigenmobilisierung bis hin zur beobachtenden Teilnahme bei der Hinrichtung entstammt einem Rechtsverständnis, was Sühne und auch Rache in den Mittelpunkt stellt. Unser Rechtsverständnis ist aus guten Gründen anders. Das belastet Angehörige oft sehr und führt dann auch zu dem populistisch gehypten Vorwurf, deutsche Gerichte würden die Täter fürsorglich und die Opferangehörigen schäbig behandeln. Dem ist in der Regel nicht so. Es wirkt im Prozess manchmal so, wenn nach den Tatmotiven geforscht wird. Das muss ein Gericht aber. Gesprochene Urteile haben oft auch eine seelischen Frieden schaffende Funktion, weil in ihnen das Unwerturteil der Gesellschaft zum Ausdruck kommt und damit eine Art starker Solidarisierung mit den Angehörigen ausgedrückt ist.
Auch für das weitere Umfeld etwa Kollegen oder Bekannte ist es wichtig, wie sie sich wie man sich den Hinterbliebenen angemessen gegenüber verhält. Gibt es einen Verhaltenskodex?
Wittmann: Es gibt keinen Kodex - außer dem des mitfühlenden Herzens, Takt und Rücksichtnahme. Jeder muss sich selbst fragen, wie er mitfühlen kann. Wenn er sich seiner eigenen Gefühle gewiss ist, kann er sich nicht falsch verhalten. Man kann immer fragen, ob jemand reden möchte. Das Leben geht weiter und die Bekannten sind dafür vor allem zuständig. Thematisierung von Tat und Folgen nur, wenn die Betroffenen das wollen und signalisieren! Hilfsangebot ja aber vor allem Hilfe zum Weiterleben. In Mitleid schlecht getarnte Neugierde und Sensationslust hilft nicht. Rachefantasien und Schuldzuweisungen an den Staat, die Tatzeugen oder die Nachbarn helfen niemand. Leute fallen lassen, weil sie in ihrer Trauer unbequem geworden sind, ist schlimm - und passiert leider immer wieder. Soviel Alltäglichkeit wie möglich, ist eine gute Richtschnur.
Zur Person:
Professor Lothar ist Diplom-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut. Er praktiziert in Otterndorf.
Diplom in Psychologie 1974, Promotion 1980, Psychotherapieausbildung, wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Marburg, Zürich und Hamburg.
Niedergelassener Psychotherapeut in Otterndorf seit 1999. Präsident der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen bis 2010. Honorarprofessor für Klinische Psychologie Universität Hildesheim. Familienstand: verheiratet, drei Kinder.