
Schwer kranke Cuxhavenerin ging zwei Jahre "durch die Hölle" - und macht Betroffenen Mut
KREIS CUXHAVEN. Sonja Tiedemann hat mehrere schwere chronische Erkrankungen. Unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie hatte sie daher besonders zu leiden - und doch einen Weg gefunden, um ihre Lebensfreude nicht zu verlieren.
Der Alltag von chronisch Kranken und Menschen mit Behinderung ist seit Ausbruch der Corona-Pandemie geprägt von Angst und Einsamkeit. So auch bei Sonja Tiedemann. Aufgrund ihrer Vorerkrankungen hat sie ein erhöhtes Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf und durchlebte in den letzten zwei Jahren "die Hölle". Dennoch hat die 53-Jährige einen Weg gefunden, damit umzugehen und positiv in die Zukunft zu blicken.
Tiedemann ist Risikopatientin
"Ich habe diese Pandemie als eine mühselige und anstrengende Reise empfunden", sagt Sonja Tiedemann. Die 53-Jährige hat verschiedene schwere chronische Erkrankungen. Darunter eine Rheuma-Art, wegen der sie Medikamente einnehmen muss, die das Immunsystem unterdrücken. Sie gilt als Risikopatientin für einen schweren Corona-Verlauf. "Bis es die Corona-Impfung gab, habe ich mich selbstisoliert", schildert sie.
Abstriche im Alltag
In dieser Zeit muss die Südländerin immense Abstriche machen. "Ich bin es gewohnt Menschen zu umarmen und auf die Wange zu küssen", schildert die Cuxhavenerin. Sich von ihren Liebsten zu distanzieren, fällt ihr schwer. Besuch empfängt sie nur von wenigen, bestimmten Personen - mit Abstand und FFP2-Maske. Tiedemann sagt: "Distanz wurde meine neue Nähe."
Entfremdung durch Isolation
Aufgrund ihrer krankheitsbedingten Einschränkungen sind die Cuxhavenerin und ihr Mann, der auch schwer krank und Risikopatient ist, Frührentner und schon vor Pandemie-Beginn im Alltag eingeschränkt. Umso wichtiger ist es für das Ehepaar das Leben zu genießen - und das in vollen Zügen. Essengehen, Kinoabende oder Konzertbesuche zusammen mit Freunden gehören zu den Aktivitäten, die sie das Leben spüren und genießen lässt.
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Entfremdung durch die Pandemie
Die Selbstisolation bedeutet für die 53-Jährige einen Verzicht auf alles, bei dem sie "die Seele baumeln lassen" und ihre Krankheit vergessen kann. "Dadurch habe ich eine Entfremdung erfahren, die ich mir vorher nicht vorstellen konnte", fährt Tiedemann fort.
Schwere Schicksalsschläge zu verkraften
Zunächst hält sie der Gedanke über Wasser, dass Forscher an einem Impfstoff arbeiten. Doch das hält nicht lange an. "Je mehr Wochen vergingen, desto distanzierter war ich von allem." Darunter leidet sie sehr. "Meinem Mann und mir wurde irgendwann klar, dass wir erst wieder aufatmen können, wenn wir geimpft sind." Auch schwere Schicksalsschläge muss die Cuxhavenerin isoliert zu Hause verkraften.
"Wird mich für immer verfolgen"
"Ein Freund, der mit mir vor einigen Jahren einen Inklusionsfilm gemacht hat, ist gestorben und ich konnte nicht zur Beerdigung", sagt Tiedemann. Auch verstirbt eine Verwandte ihres Mannes, die für Tiedemann wie eine Mutter war. "Es wird mich immer verfolgen, dass ich diesen beiden wichtigen Menschen nicht die letzte Ehre erweisen konnte", sagt sie.
"Das war die Hölle"
Das "Durchhalten bis zur ersten Impfung" dauert insgesamt 13 Monate. "Das war die Hölle", so Tiedemann. Ängste vor der Ansteckung prägen ihren Alltag. "Mir selbst dieses Verbot aufzuerlegen ,Du darfst das nicht, du musst an deine Gesundheit denken, sonst stirbst du‘, war schrecklich." Den vollständigen Impfschutz hat Tiedemann im Juni 2021 erlangt.
Hündin gibt Halt
Ein wichtiger Halt und Zuflucht aus der Einsamkeit ist in dieser Zeit ihre Hündin "Ronja". Wenn Sonja Tiedemann in ihre Augen schaut, erlebt sie eine Freude, die sie nicht in Worte fassen kann. Die bedingungslose Liebe zwischen sich und ihrer Hündin, aber auch die Spaziergänge in der Natur, heitern Tiedemann auf. "Sie war schon immer mein Antidepressivum."
Keine Normalität bis heute
Doch ein Aufatmen ist trotz Impfung nicht möglich. Die neuen Virus-Varianten sorgen für Unsicherheit und versetzen Tiedemann immer wieder in Angst. Normalität ist bis heute nicht eingekehrt. "Wir sind weiterhin zu Hause geblieben und haben nur das Nötigste, wie Einkäufe erledigt und das bis jetzt", erklärt die Cuxhavenerin.
Viele haben sich isoliert
Dass Sonja Tiedemann nicht die einzige chronisch Kranke ist, die noch immer massiv unter der Pandemie leidet, weiß Christine Wagner, Vorsitzende des Beirates für Menschen mit Behinderungen der Stadt Cuxhaven. "Viele chronisch Kranke oder Menschen mit Beeinträchtigungen isolieren sich seit Februar 2020 weitestgehend", betont Wagner.
Unterstützung durch Nachbarn
Um einen Weg aus der Einsamkeit zu finden, sei unter anderem die Initiative der Mitmenschen gefragt. "Bei mir haben Nachbarn gleich zu Beginn der Pandemie einen Zettel ins Treppenhaus unseres Acht-Parteienhaus gehängt", schildert Wagner. Darauf war ein Foto der beiden geklebt mit einem Hilfsangebot. "Das war ein schönes Gefühl zu wissen, dass da jemand ist, man hätte nur anrufen müssen um kontaktlos Weiteres vereinbaren zu können."
Egoismus ablegen
Solche Initiativideen seien super, findet Wagner. Von Hilfsangeboten wie dem genannten, dürfe es künftig mehr geben, wenn es nach Wagner geht. "Die Gesellschaft muss dazukommen ihren Egoismus abzulegen", sagt Jürgen Wintjen, Vorsitzender des Beirats für Inklusion im Landkreis Cuxhaven. Gleichzeitig haben Gesunde oft Berührungsängste mit Menschen mit Behinderungen oder chronisch Kranken. Doch auch von selbst sollten Betroffene die Initiative ergreifen, wenn sie denn können. Wintjen sagt: "Es gibt Stellen bei denen sich Menschen mit Behinderungen Hilfe suchen können."
Beispielsweise über Selbsthilfegruppen des Paritätischen, auf Internetseiten, wie von der Aktion Mensch, aber auch im privaten Umfeld. "Nichts kann das persönliche Gespräch ersetzen."
Lebensmut nicht verloren
Ihren Lebensmut hat Sonja Tiedemann dennoch nicht verloren: "Ich habe versucht, das alles nicht an mich heranzulassen." Ablenkung von der Pandemie selbst ist dafür ein wichtiger Baustein.
Freude an kleinen Dingen
Statt den ursprünglich beliebten Aktivitäten nachzutrauern, findet das Glück in den kleinen Dingen ihres Alltags: ein Buch lesen, Häkeln, Teetrinken. "Schöne Rituale schaffen und es sich gut gehen lassen, das würde ich anderen empfehlen, denen ähnlich geht wie mir", sagt sie. Wer sich jeden Tag beim Aufwachen vornehme etwas Gutes zu erleben, der schaffe es auch.