
80 Jahre danach: Er war der Festungskommandant, der Cuxhavens Zerstörung verhinderte
80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kommen immer noch neue Details ans Licht, die bislang in keinen Geschichtsbüchern und Archiven festgehalten sind. Vor der Übergabe der Festung Cuxhaven an die Briten war die Stadt ein Pulverfass.
Für Georg Schmidt-Thomée und seine Brüder lebte die Erinnerung an die letzten dramatischen Kriegstage in Cuxhaven in jeden Sommerferien bei den Großeltern auf. Ihr Großvater Herbert Sorge hatte als Festungskommandant Cuxhaven am 7. Mai 1945 den Briten übergeben - nicht ohne in den letzten Tagen noch sein Leben zu riskieren.
Die Festung Cuxhaven war aufgrund ihrer strategischen Lage und der riesigen Militärpräsenz bedeutsam für die Briten. Umso dringender war das Bestreben der deutschen Militärführung, dem Feind so wenig Infrastruktur wie möglich übrig zu lassen. Cuxhavens Hafen sollte zerstört werden. Herbert Sorge riskierte sein Leben, als er Tage von der Ankunft der Briten sämtliche in den Kaimauern installierte Sprengsätze entschärfen ließ.
Mit der Ehefrau die Brisanz der Lage besprochen
Herbert Sorge hielt sich bereits wochenlang in der Kommandantur an der Ecke Kasernenstraße/Neue Reihe auf; ab dem 20. April 1945 nur noch im Gefechtsstand im Fort Kugelbake. Kinder und Ehefrau besuchten ihn dort mehrfach. Auf Spaziergängen sprach das Ehepaar eingehend über die kritische Situation; auch das Risiko der Sippenhaft für den Fall seiner Verhaftung oder Hinrichtung als Verräter.

"Wir haben diese Erzählungen regelrecht aufgesaugt", sagt Enkel Georg Schmidt-Thomée. Er hat auf unser Bitten hin Erinnerungen im Familienkreis gesammelt, Akten studiert und uns seine Aufzeichnungen zur Verfügung gestellt. Auch Herbert Sorges Tochter Wega Schmidt-Thomée, gerade 90 Jahre alt geworden, und Sohn Hans-Martin Sorge konnten Wissenswertes beisteuern.
Eiliges Notabitur, dann direkt eingezogen
Den 1901 in Halberstadt geborenen Großvater beschreibt der Enkel als vielseitig begabten, kreativen Menschen mit musikalischem und künstlerischem Talent, dessen Glossen, Geschichten und Gedichte teils sogar in der Presse veröffentlicht wurden. Nach dem eiligen Notabitur im Mai 1917 am humanistischen Domgymnasium in Halberstadt (nach einem nur zwei Monate andauernden Schuljahr) wurden alle Absolventen eingezogen. Am 26. September 1918 trat Herbert in die Kaiserliche Marine als Seekadett ein; zwei Monate später wurden alle nach Hause geschickt.
Mitgliedschaft in der NSDAP abgelehnt
Schmidt-Thomée weiter: "Er war ein von humanistischen Idealen geleiteter Freigeist, weder er noch seine Frau waren jemals Mitglied in der NSDAP, obwohl in seinem Beruf der Druck enorm war, wenigstens 'pro forma‘ einzutreten." Herbert Sorge soll es abgelehnt haben, sein Handeln blind den staatlich vorgegebenen Moralnormen unterzuordnen, wenn diese nicht mit dem eigenen Gewissen vereinbar waren. "Oft wird heute - teils etwas leichtfertig - mangelnder Widerstand im Dritten Reich beklagt, ohne zu bedenken, in welch dramatischen Zwangssituationen sich die Menschen in diesem autoritären Regime befanden.
Widerstand konnte mit dem Tod bestraft werden
Mein Großvater musste als Festungskommandant im Falle des Scheiterns befürchten, vor ein Standgericht gestellt zu werden; seiner Familie drohte die ,Sippenhaft‘. Diese Gefahr wird heute meist vergessen, wenn fehlender Mut in der damaligen Zeit angeprangert wird." In den letzten Kriegstagen seien Todesstrafen für weit geringere Vergehen (wie zum Beispiel Fahnenflucht) verhängt worden. "Insofern war klar, was dem Stadtkommandanten bei Missachtung des sogenannten ,Nero-Befehls' (verbrannte Erde und Verteidigung bis zur letzten Patrone) drohte.
Hafen für die Zeit nach dem Krieg erhalten
Doch Herbert Sorge beging im Sinn des Regimes bewusst Hochverrat und gab verlässlichen Untergebenen den geheimen Befehl, nachts die Zünder aus den Minen in den Kaimauern zu entschärfen. Denn die Versorgung der Bevölkerung sowie tausender Flüchtlinge und Wehrmachtssoldaten nach der zu erwartenden Kapitulation hing auch maßgeblich von einem intakten Hafen ab. Zudem hätten die Sprengungen vermutlich erhebliche Beschädigungen in der Stadt angerichtet."

Parallel bestand permanent die Sorge vor fanatischen Einzelaktionen gegen die vorrückenden Briten. Das Verhalten der nach Cuxhaven strömenden deutschen Truppenteile (unter anderem Fallschirmjäger und ein kompletter Panzer-Zug) war unberechenbar; noch gefürchteter waren aber fanatische Kurzschlussreaktionen aus Reihen der in den Volkssturm integrierten Hitlerjugend, die über Gewehre und Panzerfäuste verfügte.
Hitlerjugend im letzten Moment entwaffnet
"Schon einige Schüsse aus einem Kellerfenster hätten die ganze Stadt in Gefahr bringen können", so Schmidt-Thomée. Für die Entwaffnung der Hitlerjugend sei sein Großvater dem damit beauftragten Korvettenkapitän Eich "auf ewig" dankbar gewesen. Zur Besonnenheit trug auch die Verständigung zwischen Kommandant, Oberbürgermeister und weiteren Führungspersonen in diesen letzten Kriegstagen bei. Rundfunk und Presse schlossen sich mit entsprechenden Aufrufen an.


Weiterhin ließ Herbert Sorge die Vorräte der Wehrmacht, die für den Fall einer langen Belagerung angehäuft worden waren, an die Zivilbevölkerung verteilen. "Aus den Erzählungen meiner Großmutter weiß ich, dass auch sie damals in einer langen Schlange anstand, um ihre Milchkanne mit Öl befüllen zu lassen. Dazu gab es sogar noch ein Stück Schmalzfleisch, eine für ihre Kinder unvergessliche Sensation."
Am 4. Mai 1945 wurde die bedingungslose Teilkapitulation für die deutschen Streitkräfte in Holland, Nordwestdeutschland, auf allen Inseln inklusive Helgoland, Schleswig-Holstein sowie in Dänemark besiegelt. Alle militärischen Anlagen und Fahrzeuge mussten der Besatzungsmacht widerstandslos übergeben werden. Dennoch versenkte ein deutscher Trainingsoffizier noch in der Nacht zum 7. Mai zwei U-Boote im Cuxhavener Hafen.
Begegnung im Pfarrhaus bei Hechthausen
Später am Tag fuhr Herbert Sorge zusammen mit dem ihm unterstellten Hauptmann von Drosten (oder Dorsten) sowie einem Dolmetscher zum Hauptquartier des britischen Garde-Panzerkorps in ein Dorf südlich von Hechthausen. Im Pfarrhaus verhandelte der britische Kommandant schon mit dem General der Infanterie Siegfried Rasp. Bei Zigaretten und Kaffee verlangte er nun, dass ein deutscher Offizier seine Panzerspitze als Vorhut nach Cuxhaven führe.
Diesen Befehl erteilte General Rasp Herbert Sorge. Der Festungskommandant sollte gut sichtbar, quasi als lebende Zielscheibe für eventuelle Gegenwehr fanatischer Nazis, vorn auf dem Panzer sitzen. Der Moment, in dem Herbert Sorge den Panzer besteigt, ist durch britische Militärfotografen festgehalten worden.
Karten waren wichtig für den Weg durch vermintes Gelände
Zusätzlich erhielt er den Auftrag, schnellstmöglich aus der Kommandantur die Land- und Seekarten mit den eingezeichneten Minen zurück zum englischen Quartier zu bringen. Das Wissen um die Standorte war lebensrettend. Denn es waren Seeminen auch im "Schutzwall" um Cuxhaven verbaut worden. Auf dem Weg nach Hechthausen war Herbert Sorge an der Oste bereits ein auf dem Kopf liegender britischer Panzer aufgefallen, der auf eine solche Mine gefahren war.
Sorge fuhr auf einem Wagen vor
Nach dem Durchfahren dieser Verteidigungslinie muss es einen Wechsel auf dem Panzer gegeben haben. Aufgrund des stockenden Verkehrs hätten sich die Briten offenbar bereit erklärt, Sorge in einen leichten Wagen umsteigen zu lassen, damit dieser schneller die Karten besorgen konnte. Schmidt-Thomée: "Die Karten waren enorm wichtig; es waren ja nur die Minen in den Kaimauern entschärft worden." Hauptmann von Drosten habe dann für die letzte Strecke den Platz auf dem Panzer eingenommen.
Zur gleichen Zeit nahm Kapitän zur See Kurt Thoma, Chef der 5. Sicherungsdivision, vor dem Eintreffen der Engländer im Minensucherhafen die Flaggenparade ab. Das Niederholen der Flagge der deutschen Kriegsmarine besiegelte die bedingungslose Kapitulation und die militärische Niederlage auch symbolisch.
In Altenwalde sollte Familie sicherer sein
Nach der Übergabe der Stadt oblag Herbert Sorge die Aufgabe, die Festungsbesatzung und die weiteren deutschen Truppen in ein Gebiet in der Nähe von Neuhaus zu bringen, wo diese auf einer eingezäunten Wiese auf ihre Überführung in britische Internierungslager warteten. Zu den Internierten gehörte auch er. Da er aber immer wieder für Amtshandlungen nach Cuxhaven musste, nahm er mehrfach - anfangs noch in Uniform - heimlich den Umweg über Altenwalde, wo er seine Ehefrau Elsbeth mit Tochter Wega (knapp zehn Jahre) und Sohn Hans-Martin (8) in einer sehr spartanisch ausgestatteten Unterkunft untergebracht hatte, während er sich nur noch in der Kommandantur aufhielt.
Er wollte sie der potenziellen Bedrohung durch Kriegshandlungen und fanatische Nationalsozialisten möglichst entziehen. Auch die Einwohnerschaft Cuxhavens forderte er auf, Frauen und Kinder aufs Land zu schicken, was teils auf großes Unverständnis stieß und ihm empörte Anrufe einbrachte. Schmidt-Thomée: "Meine Mutter erinnert sich noch heute daran, wie entsetzt sie war, weil er wegen der extremen Verantwortung und Arbeitsüberlastung, Schlafmangels und unregelmäßiger hektischer Mahlzeiten sehr ausgezehrt aussah."

Der Neustart nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft war schwierig. Herbert Sorge hangelte sich von Job zu Job. Die Familie lebte bescheiden und ohne Privilegien; zeitweilig befand sich ihr Zuhause im Haus der Familie Olfers (sozialdemokratischer Oberbürgermeister und Landtagspräsident) in der Gorch-Fock-Straße. Im Nachkriegsdeutschland gab es wenig Bereitschaft, sich differenziert mit der Naziherrschaft, Krieg und Kriegsende auseinanderzusetzen (wir werden hierauf in einem zweiten Teil zurückkommen).
Herbert Sorge wäre es nicht eingefallen, sein Wirken in den Vordergrund zu stellen, dennoch soll es ihn sehr gefreut haben, wenn in den Cuxhavener Zeitungen bei Erinnerungen an das Kriegsende einige positive Würdigungen erschienen. Erst nach seinem Tod (1980) stellte CN-Chefredakteur Karl-Heinz Bischoff in einem Nachruf das beherzte Handeln Sorges in den Mittelpunkt; für seine Familie war das eine Genugtuung.

