Carmina Burana nimmt in Cuxhaven Fahrt auf
Im Stadttheater Cuxhaven verschmelzen Stimmen, die seit Jahren nicht erklangen, mit jugendlicher Neugier zu einem einzigartigen Klangkörper. Das erste Treffen für das Carmina-Burana-Projekt wird zur lebendigen Erfahrung für alle Beteiligten.
Der Saal des Stadttheaters Cuxhaven hat an diesem Nachmittag eine ganz eigene Atmosphäre. Heute wird hier keine Aufführung gegeben. Die Zuschauerränge sind fast leer. Nur vereinzelt sitzen ein paar interessierte Chorsängerinnen auf den grün gepolsterten Sitzen. Und plötzlich stehen da rund 40 Stimmen aus der Region, ausschließlich Frauen, manche waren Jahrzehnte nicht mehr im Chor - manche kommen zum ersten Mal überhaupt auf einer professionellen Bühne zusammen. Dazu gesellt sich eine Stunde später noch ein Schulchor vom Amandus‑Abendroth‑Gymnasium.
Der musikalische Leiter des Mare-Musik-Festivals, Mathias Christian Kosel, stellt sich direkt vor die Bühne - ganz ruhig - und lässt erst einmal den Atem ankommen. "Wir fangen mit dem an, was da ist. Keine Bewertung. Wir bauen uns von innen nach außen auf", sagt er. Es ist das erste große Aufeinandertreffen für das Carmina-Burana-Projekt im kommenden Sommer 2025 - und man spürt, wie dieses Projekt sich hier erstmals mit wirklichen Stimmen füllt. Am Vortag lief ein Termin in der Kugelbake-Halle mit anderer Gruppe, anderem Mix - und jetzt im Stadttheater geht der Prozess weiter.
"Wir machen hier keine Schablone, wir machen Erlebnis"
Kosel lässt die Gruppe kurz einsingen. Ohne Noten. Nur Raumgefühl. Nur Körper. Dann begegnen sich plötzlich Stimmen und Klangfarben, die vorher nie miteinander Kontakt hatten. Zwischendurch werden Dinge geklärt: Wie hören wir uns gegenseitig, wie bleiben wir flexibel in Tempo und Puls, wie reagieren wir im Singen auf Präsenz und nicht auf Perfektion? Kurze Absprachen - und dann wieder hinein in den Klang. Kosel formuliert es einmal mitten im Prozess wie eine Art Kompass: "Wir machen hier keine Schablone, wir machen Erlebnis. Und Carmina Burana ist genau dafür gebaut. Sie ist Energie, Körper, Gemeinschaft."
"Ich habe seit Jahren nicht mehr öffentlich gesungen"
Die Sängerinnen und Sänger sprechen vorsichtig am Anfang, fast tastend. "Ich habe seit Jahren nicht mehr öffentlich gesungen. Ich dachte, das ist vorbei für mich", sagt eine Frau aus Sahlenburg. "Für mich war es früher immer: ich bin nicht gut genug für Chor. Und hier fühlt es sich an: Ich darf", sagt eine Frau aus Altenwalde.
Kosel nickt dazu immer wieder langsam. "Carmina war immer Körperkultur. Im Mittelalter schon. Sie war nie Chor-Normierung. Sie war Leben. Deshalb arbeiten wir hier erst am Menschen - und dann an der Partitur."
Und dann kommen die Schüler dazu
Nach einer knappen Stunde Audition öffnet sich der Theatersaal. Mitglieder eines Schulchores vom AAG - Jugendliche - gesellen sich dazu, unkompliziert, direkt. Es gibt kein Fremdheitsmoment. Nur Neugier. Die Stimmen mischen sich, als hätten sie wochenlang zusammen geprobt. Und in dem Moment wird sichtbar, wie dieses Projekt laufen will: nicht von außen als fertiges Theaterformat nach Cuxhaven gebracht - sondern von innen mit dieser Stadt, mit ihren Stimmen und Biografien gebaut.
Carmina Burana nimmt Fahrt auf. Nicht als Eventmaschine - sondern als gemeinsame Entwicklung. Und Cuxhaven wird gerade - sehr leise, aber sehr spürbar - ein Produktionsort.

