Klaus Gilg, ehemaliger Schulleiter aus Cuxhaven, verliert auch im Ruhestand das Bildungssystem nicht aus den Augen. Die von ihm gezeigte Statistik zeigt, dass es Kindern aus sozial niedrigeren Schichten immer noch extrem schwer gemacht wird, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen. Foto: Reese-Winne
Klaus Gilg, ehemaliger Schulleiter aus Cuxhaven, verliert auch im Ruhestand das Bildungssystem nicht aus den Augen. Die von ihm gezeigte Statistik zeigt, dass es Kindern aus sozial niedrigeren Schichten immer noch extrem schwer gemacht wird, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen. Foto: Reese-Winne
Ungerechtigkeit und Überlastung

Ehemaliger Cuxhavener Schulleiter: Wer die Nöte verschweigt, hilft den Schulen nicht

von Maren Reese-Winne | 25.11.2025

Bis zum Sommer 2016 leitete Klaus Gilg die Wichernschule in Cuxhaven, eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen, die in Niedersachsen eingestellt worden ist. Dem Ruheständler ist es alles andere als egal, was heute mit dem Bildungssystem los ist.

Schon zu aktiven Zeiten schätzte er das direkte Wort. Als Ruheständler kann der Grodener heute unverblümt benennen, was den Schulen - und dem ganzen Land - zusetzt.

Was den Zustand des Bildungssystems angeht, beobachtet er eine parteiübergreifende "Schönmalerei": "Nie zuvor hatten wir so viel Personal an den Schulen" - was Niedersachsens Kultusministerin Julia Willie Hamburg zu Beginn des Schuljahrs auch in unseren Medien sagte, höre er seitdem ständig wieder. "Wer das liest, denkt, dass alles in Ordnung sei."

Beruhigende Parolen gehen über Realität hinweg

Doch die Behauptung, dass genug Geld für die Schulen ausgegeben werde, gehe über eklatante Personalnot, viel zu wenige Förderschullehrkräfte und Unterversorgung der Primarstufen einfach hinweg. "Ich treffe auf Kollegen, die völlig fertig sind, die nicht mehr können, krank werden und ausfallen." Zahlenschiebereien zum Zwecke der Statistik-Verschönerung kenne er noch allzu gut von früher, als die Unterrichtsversorgung gerne mal durch das Streichen von Zusatzstunden für Sprachförderung, Psychomotorik oder Schwimmunterricht wie von Zauberhand von 95 auf 100 Prozent gepusht wurde. "Heute wären das noch 80 Prozent", mutmaßt er.

Mit Besorgnis betrachtet er vor allem die Entwicklung der Inklusion. Die zwei Stunden, die in den Grundschulen pro Woche und Klasse durch Förderschullehrkräfte erteilt werden sollten, stünden vielerorts gar nicht mehr zur Verfügung, da die Förderschullehrkräfte im regulären Unterricht benötigt würden. Gezielte Förderung falle da flach. 

Nicht gelingende Inklusion setzt Eltern unter Druck

Das Ergebnis seien aufs Dreifache angestiegene Zahlen beim Förderbedarf Geistige Entwicklung. Hier sieht Klaus Gilg - wohlgemerkt ein Anhänger der Inklusion, wenn sie funktioniert - seine einstige Schülerschaft direkt betroffen: "Wenn die allgemeinbildenden Schulen den Anforderungen der Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedarf nicht mehr nachkommen können, melden viele Eltern ihre Kinder lieber um, bevor es zu einem Schulabbruch kommt. Viele von ihnen wären früher zu uns in die Wichernschule gekommen. Sie gehen nun tatsächlich in unserem früheren Gebäude zur Schule, nur dass dies inzwischen eine Außenstelle der Schule am Meer (Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung) ist."

Wichernschule war einmal eine Stütze des lokalen Arbeitsmarkts

"Wir wurden damals für die hohe Rückkehrerquote an die Grundschule gelobt. Drei Viertel unserer Absolventen erreichten nach der zehnten Klasse ihren Hauptschulabschluss, sie waren begehrte Azubis", zählt Klaus Gilg auf. Viele dieser dringend benötigten Fach- und Arbeitskräfte fehlten inzwischen dem Arbeitsmarkt. 

Statt den die größtmögliche Unterstützung zukommen zu lassen, drohten sich die Nöte der Schulleitungen um Lehrermangel und Stundenausfall mit dem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung (stufenweise ab 2026) noch zu verschärfen. Von den baulichen Voraussetzungen ganz zu schweigen, denn allein eine Mensa mit Platz für alle könnten die wenigsten Schulen vorweisen. Die in Niedersachsen laut Klaus Gilg auf das Jahr 1988 zurückgehenden Schulbauhandreichungen könnten auch keine Orientierung bieten. 

Was ist, wenn Angehörige anderer Berufsgruppen nicht zur Verfügung stehen?

Die Vision von einer multiprofessionellen Schule (Einbindung vieler Berufsgruppen) sieht der Pädagoge durch die Tatsache ausgebremst, dass dieses Personal kaum verfügbar sei: "Das heißt, die Lehrkräfte müssen es machen." Der Einsatz von Quereinsteigern oder Master-Studenten ohne Erfahrung im Schuldienst verspreche sicher keine nachhaltige Verbesserung.

Gilg vermisst ehrliche Bewertung der Lage

Die völlige Unterfinanzierung des Systems sei schon ewig bekannt: "Untersuchungen zeigen eindeutig, dass die Ausgaben für Bildung in Deutschland deutlich unter dem EU-Durchschnitt liegen - dabei sind wir so dringend auf Bildung angewiesen!" Doch von der Politik sei einfach keine ehrliche Bewertung dieser Lage zu hören.

Das Lehramt konkurriere mit einer meist deutlich attraktiveren Bezahlung in der freien Wirtschaft und es fehlten Karrieremöglichkeiten. Hier müsste ebenso wie bei den Gestaltungsmöglichkeiten und der Besoldung der Schulleitungen gehandelt werden, so Gilg.

"Mehr Chancengleichheit würde dem Staat Geld bringen ohne Ende"

Geradezu fassungslos macht ihn die Ignoranz zum Thema Bildungsgerechtigkeit. Beharrlich werde darüber hinweg gesehen, dass der Status der Eltern immer noch über Bildungserfolge bestimme. Alles sei bekannt, auch dass es nur  gut zwölf Prozent der Kinder, deren Eltern höchstens einen Hauptschulabschluss haben, auf das Gymnasium schafften. "Mehr Chancengleichheit würde dem Staat Geld bringen ohne Ende", rechnet Klaus Gilg vor, "denn Investitionen in die Bildung ergeben nachgewiesenermaßen eine acht- bis zehnprozentige Rendite. Und wir machen es nicht, sondern verschwenden menschliche Ressourcen und ein Vermögen. Nicht mal wissenschaftlicher Verstand hilft."

Ehrlichkeit wäre der erste Schritt, findet er. Und dann endlich eine konzertierte Aktion - "mit Unterstützung aus allen Bereichen."

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Maren Reese-Winne

Redakteurin
Cuxhavener Nachrichten/Niederelbe-Zeitung

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