
Entstressendes Erlebnis: Eine einzigartig entschleunigende Fahrt durchs Nordseewatt
Tauchen Sie ein in die beruhigende Welt der Cuxhavener Wattwagenfahrten, wo Tradition auf Natur trifft und eine Kutschfahrt durch das Wattenmeer mehr ist als nur ein Abenteuer. Doch wie beeinflusst die Politik dieses einzigartige Erlebnis?
Von Max Martin Rahn
Entspannung. Allein mit diesem Wort lässt sich die sechsstündige Mitfahrt im Wattwagen vom gebürtigen Cuxhavener Kai Stelling (59) zusammenfassen. Begleiten Sie mich auf der Reise vom Hof in Holte, über Sahlenburg nach Neuwerk. Zusätzlich zur weltweit (fast) einzigartigen Tour durchs Cuxhavener Watt durchfahren wir die blühende Heide am Wernerwald.
Das ganze Erlebnispaket
Neben der besonderen Anfahrt bietet der Beginn auf dem Reiterhof die Möglichkeit, bei den Vorbereitungen der Pferde und Wagen dabei zu sein. Noch mit den Pferden beschäftigt, begrüßt Stelling mich freundlich. Auf der Platte steht die Luft und ich bin froh, eine kurze Hose und ein T-Shirt zu tragen, doch das wird sich alsbald ändern. Generell empfiehlt sich Flexibilität bei der Bekleidung in Küstennähe. Mit drei Wagen beginnt die Reise vom Hof in Holte.


Jahrzehntelange Erfahrung
Die meisten Gäste fahren ab der Rettungsstation Sahlenburg oder von Duhnen, beschreibt der inzwischen hauptberufliche Wattwagenfahrer Stelling. Schon seit 40 Jahren fährt er Touren nach Neuwerk. 2012 hat er seinem Bruder die Wagen abgekauft, der wiederum den Betrieb vom Vater übernommen hatte. Der ausgebildete Maurer entschied sich für den inzwischen langsam schwindenden Beruf, nachdem er 23 Jahre in einer Fischdosenfabrik in Cuxhaven gearbeitet hatte. Die Entscheidung bereut Stelling nicht grundsätzlich. Mit dem Standort ist er nicht völlig zufrieden: "Wir haben das Nachsehen im Vergleich zur Konkurrenz".
Der Vorteil der längeren Fahrt für gleiches oder sogar weniger Geld wandele sich dahingehend zum Nachteil - besonders außerhalb der Saison, in den kälteren Monaten, wo die Konkurrenz mehr Wagen einsetzen könne. Außerdem mahnt er nachdrücklich, dass die weltweit einzigartigen Touren von der Cuxhavener Politik nicht angemessen wertgeschätzt würden.


Zu Beginn durchs Naturschutzgebiet
Los geht das Kutschieren. Schnell sind wir in der wunderschön blühenden Heide im nord-östlichen Teil vom Wernerwald. Ein Anblick, der vielen Touristen verborgen bleiben dürfte. Ich fühle mich zunächst wie ins Mittelalter zurückversetzt. Das erste Mal in einer Kutsche durch fast unberührte Landschaft. Ruhig ziehen uns die beiden Pferde Luna und Max durchs sinnliche Waldgebiet. 17 und 16 Jahre haben die beiden auf dem Buckel. Einige Jahre werden sie die Strecke noch zurücklegen, bevor sie in Pferderente gehen dürfen. Pferde erreichen in etwa ein Alter von 33 Jahren. Ein Mensch hätte im Verhältnis dazu 100-jähriges Jubiläum. Erst seit drei Jahren ist diese Strecke freigegeben. Stelling würde sich über die Freigabe weiterer Routen durch Naturschutzgebiete süd-westlich von Holte freuen. Schließlich sei die Nutzung für Reiter oder Landwirtschaft auch gestattet.



Haupttreffpunkt am Strand
Bei der Rettungsstation Sahlenburg besteigen weitere Gäste den Wattwagen. Links neben mir zwei Schwestern und hinten im Wagen eine Familie mit Tochter. Die eigentliche Tour durchs Watt beginnt. Schnell macht sich der typische Küstenwind bemerkbar und ich zweifle an meiner Kleidungswahl. Ein Basecap und eine Stoffjacke habe ich vorausschauend eingepackt, allerdings lässt sich an der kurzen Hose nichts mehr ändern. Bei 20 °C ist es, trotz Wind und bedecktem Himmel, aber auszuhalten. Auf die Idee, mich mit der unter mir liegenden Decke zu schützen, komme ich zunächst nicht. Ständige Begleiter sind kreischende Möwen und andere Vögel. Neben dem Platschen der Pferdehufe im feuchten Watt herrscht eine fast schon einlullende Stille.



Menschen genießen verschieden
"Von gesprächigen bis schweigsamen Menschen ist alles dabei", erklärt Stelling ruhig. Vom Strand bis Neuwerk sind es etwa zehn Kilometer. Auf der Hinfahrt beantwortet der Cuxhavener vielfältige Fragen, die meisten stellt das Ehepaar vorn. Fleißig mache ich Notizen. Einigen Kutschern geht es nicht schnell genug, sie überholen. Gelegenheit, die anderen Wagen von außen zu begutachten. Als gebürtiger Berliner frage ich mich: Warum habe ich das nicht früher mal gemacht? Und warum genau hat das Auto das Pferd quasi völlig ersetzt? Die sich immer schneller drehende Welt müsste dringend entschleunigt werden und eine umweltschonendere Fortbewegung per Pferd wäre ein Mittel. Aber die Uhr lässt sich nur schwerlich zurückdrehen. Die Schwestern bestätigen die entschleunigende Wirkung, die Szenerie tut ihr Übriges.
Wir durchschreiten das Watt, Pfützen und tiefere Wasserlöcher bei abnehmenden Gezeiten. Neben drei entgegenkommenden Traktoren bemerke ich zunächst eine Reiterin und dann noch zwei junge Frauen auf Pferden. Was muss das eigentlich für ein tolles Hobby sein, bei Ebbe durchs Watt zu reiten, ähnlich einem amerikanischen Hollywoodfilm?


Kurzaufenthalt auf Neuwerk
Die Aufenthaltszeiten auf Neuwerk variieren, je nach Wasser und Wetter. "Es können nur 20 Minuten sein oder man kommt gar nicht mehr weg, wenn es ganz schlecht läuft", informiert der 59-Jährige. Dann könne man erst am nächsten Morgen zurückfahren. Auf der Insel treffe ich zufällig auf die Reiterin aus dem Watt. Katja Bruns (58) aus Zeven reitet jedes Jahr ungefähr fünf Mal übers Watt nach Neuwerk. Sie sieht das als Kurzurlaub. "Normalerweise reite ich mit meiner Freundin", erklärt die Fotografin. Es habe auch einen gewissen Schwierigkeitsgrad, die insgesamt 24 Kilometer mit Pferd zu absolvieren. Es brauche Vertrauen zwischen Reiterin und Tier.




Sabine Bartling (50) und Regina Hänel (44), die zwei Schwestern aus Bielefeld, die neben mir sitzen, resümieren: "Mega-Kutschfahrt. Richtig schön und wirklich mal entschleunigen." Schon zu Hause haben sie die Überfahrt gebucht. Dabei sei nicht Neuwerk, sondern die Kutschfahrt für sie das Wichtigste gewesen.

Ruhe pur
Während der Rückfahrt treffen wir wieder auf die zwei jungen Reiterinnen. Zusammen mit einigen Wattwagen treten sie die Rückreise an. Die reitenden Watt-Überquerer begeistern, gern hätte ich mehr erfahren. Letztlich schaltet sich mein Smartphone nach genau 1889 Fotos oder Videos von selbst aus und ich genieße die letzten Kilometer zum Strand und durch den Wald. Inzwischen bedecke ich mich mit einer Pferdedecke - na klar. Nur eines geht mir abschließend durch den Kopf: was für eine Entspannung.



Finanzen und Nachwuchs
Trotz zunehmender Probleme ist Kutscher Stelling glücklich. Der Branchen-Nachwuchs und die wirtschaftlichen Nachwirkungen durch die Coronazeit wirken aber bis heute. Ehemalige Kutscher gehen in Rente und durch eine gesetzliche Neuregelung lässt sich Nachwuchs immer schwerer gewinnen. Von 1886 bis 2018 bildeten die Wattwagen-Führer Nachfolger selbst aus. Aber inzwischen ist eine Art Kutscherschein notwendig, der mehrere Wochen Zeit und tausende Euro an Finanzmitteln verschlingt. Hinzu kommt, dass die Kurse in der Lüneburger Heide nur zwei Mal im Jahr stattfänden, bilanziert Stelling. Und wenn man sich selbstständig machen möchte, sollte man anfallende Kosten für Tierarzt, Futter, Beschlag, Nutzungsrechte, Standgebühren, Kurtaxe und so weiter nicht außer Acht lassen. Allein der Kaufpreis eines Pferdes liege bei 6000 bis 7000 Euro.
Trotz Umweltschutz 19 Prozent Umsatzsteuer
"Corona hat uns schwer getroffen. Jetzt ist alles so teuer und wir müssen uns tagtäglich überlegen, wie es überhaupt weitergeht", seufzt Stelling schwermütig. Die Preise müsse er nächstes Jahr anziehen, um überlebensfähig zu bleiben. Aktuell zahlt ein Erwachsener 50 Euro für die sechs Stunden nach Neuwerk und zurück. Im Vergleich zur Konkurrenz sei das zu günstig, vergleicht Stelling. So nehme ein Kutscher für eine Einzelfahrt schon 35 Euro - nur von Neuwerk zum Strand, oder andersherum. Für den Cuxhavener kommt erschwerend hinzu, dass 19 % Umsatzsteuer anfallen - im Gegensatz zu 7 % bei anderen Fuhrunternehmen, die motorisiert unterwegs sind. "Unverständlich und belastend", konstatiert Stelling.
Watt-Tour weltweit besonders
Weltweit einzigartig sind die Wattwagenfahrten von Cuxhaven nach Neuwerk nicht ganz. Es gibt noch eine Alternative im Nordfriesischen Wattenmeer. Dort verkehren ganz ähnliche Gespanne von Nordstrand zur Hallig Südfall. Weltweit bleibt dieser Touristenmagnet aber einmalig. Das gibt es nirgendwo sonst.
Folgend weitere Eindrücke:













