
Freundschaft zweier Cuxhavener fand ein blutiges Ende
Eigentlich hatten sie vorgehabt, sich an einem Freitagabend ganz entspannt die Kante zu geben. Dann gerieten zwei junge Leute in Streit. Der eine erlitt Stichwunden, der andere muss sich nun vor Gericht verantworten. Vorwurf: versuchter Totschlag.
Ein aus dem Ruder gelaufener Streit unter Freunden zieht einen Prozess vor der Jugendstrafkammer des Landgerichts Stade nach sich. Auf versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung lautet die Anklage gegen einen 20-Jährigen. Der geständige Täter hatte einem anderen Cuxhavener mehrere Messerstiche beigebracht.
Nachvollziehen konnten die unter Vorsitz von Richterin Nina Reinecker tagenden Kammermitglieder nicht, warum die Situation vom 22. auf den 23. November dermaßen eskalierte. Sprachen doch sowohl der Beschuldigte als auch das Opfer davon, sich nahegestanden: Beinahe täglich habe man sich gesehen, und auch für besagten Freitag ein Treffen vereinbart.
Beschuldigter "Ich hatte nicht vor, ihn zu töten"
Miteinander "chillen" nannten es die Heranwachsenden, die in einer Clique von fünf Personen bereits einiges getrunken hatten, bevor der Entschluss reifte, das Gelage in der Wohnung einer Freundin fortzusetzen. Dabei floss abermals Alkohol, ein Joint kreiste, die Stimmung: "Über die Familie" habe man sich in die Haare bekommen, in ritualisierter Form flogen erst Beleidigungen hin und her und dann die Fäuste. Der Angeklagte wurde in eine Glastür geschubst, deren Scheibe zerbarst. In den folgenden Augenblicken griff er zu einem auf dem Boden liegenden Messer und stach zu. Die Umstände der Tat beschreiben der Beschuldigte und das 23-jährige Opfer allerdings diametral anders.
Der Beschuldigte spricht davon, auf dem Boden gelegen zu haben. Der 23-Jährige befand sich angeblich über ihm und soll ihn ins Gesicht geschlagen haben - nach seinen Worten der Auslöser, der ihn nach der in Reichweite liegenden Klinge greifen ließ. "Ich hab‘ gar nicht darüber nachgedacht", gestand er bei Verhandlungsauftakt am Donnerstag.
Die Stiche trafen seinen Kontrahenten in den linksseitigen Oberkörperbereich, möglicherweise auch am Oberschenkel. Sie seien nicht mit voller Wucht ausgeführt worden, betonte der gegenwärtig in einer Jugendstrafanstalt untergebrachte Heranwachsende. "Ich hab' ihn gepiekt, ich hatte nicht vor, ihn zu töten."
Verteidiger erkennt Ungereimtheiten
Die Verletzungen sind dennoch erheblich gewesen, denn das Opfer erlitt offenbar nicht nur Fleischwunden, sondern auch einen kleinen Lungenriss. Im Gerichtssaal sprach der 23-Jährige auch davon, schlecht zu schlafen - möglicherweise die Auswirkungen einer ebenfalls diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung. Doch wie viel hatte der Geschädigte von den Stichen überhaupt mitbekommen? Was diese Frage anging, verwickelte sich der junge Mann im Gerichtssaal immer wieder in Widersprüche: "Das Zustechen habe ich nicht gesehen, aber ich weiß es", sagte er auf die Identität des Täters bezogen. Kurz darauf korrigierte er sich, indem er davon sprach, aus den Augenwinkeln etwas wahrgenommen zu haben. Strafverteidiger Torben Rühmkorf hielt ihm daraufhin seine Aussage aus der polizeilichen Vernehmung vor: Da hatte der 23-Jährige angegeben, dass er nicht wisse, wer ihn "angestochen" habe. Er habe den Täter nicht gesehen.
"Irgendwas stimmt an der ganzen Geschichte nicht", schlussfolgerte Rühmkorf, nachdem er zuvor Ungereimtheiten zwischen Einstichstellen und dem vom Opfer geschilderten Tathergang auf der anderen Seite aufgezeigt hatte. Nach der Version des Geschädigten war jener von einer weiteren Person von vorn festgehalten worden, während die Messerstiche von einem hinter ihm stehenden Täter platziert wurden.
Was war der wirkliche Grund?
Ausweichend reagierte der 23-Jährige auch auf Fragen, warum die Situation in der Wohnung der jungen Frau derart eskaliert war. War dabei Eifersucht im Spiel gewesen, ging es am Ende um noch ganz andere Dinge und welche Rolle spielte ein mehrfach erwähntes Cannabidiol-Liquid? Eine Antwort, die der Betreffende vorbrachte, ließ keinen Zweifel zu: "Sie sind Freunde?!", hatte die Vorsitzende Reinecker in Bezug auf den kaum drei Meter vom Zeugentisch entfernt sitzenden Beschuldigten gefragt. "Wir waren Freunde", verbesserte der Angesprochene, ohne den Kopf dabei in Richtung Anklagebank zu wenden.