
Überholmanöver bei Otterndorf: Sekunden, die alles hätten zerstören können
Ein riskanter Überholversuch auf der B73 bei Otterndorf endet im Chaos. Fahrzeuge geraten ins Schleudern, Airbags lösen aus. Vor Gericht schildern Zeugen ihre Angst und Albträume. Jetzt geht es um Fahrlässigkeit oder vorsätzliches Handeln.
Ein Morgen Anfang März. Es ist noch dunkel, nur am Horizont wird es langsam heller. Auf der B73 zwischen Altenbruch und Otterndorf ist viel Verkehr. Pendler sind unterwegs, auch Lastwagen. Viele fahren die Strecke täglich, kennen jede Kurve.
Kurz vor einem Überholverbot setzt ein Autofahrer zum Überholen an. Was dann geschieht, dauert nur wenige Sekunden. Der Wagen des 35-Jährigen touchiert ein entgegenkommendes Auto. Das Fahrzeug wird herumgeschleudert, dreht sich mehrfach landet auf der Gegenfahrbahn. Ein weiteres Auto gerät ins Schleudern. Airbags lösen aus. Der Verkehr kommt zum Erliegen.
"Ich dachte, ich schaffe das"
"Dass es keine Toten gab, ist ein Wunder", sagt Richter Redlin. Im Saal des Amtsgerichts Cuxhaven geht es um die Frage: Hat der Angeklagte fahrlässig gehandelt - oder vorsätzlich rücksichtslos? Die Antwort darauf entscheidet, ob ihm ein Fahrverbot droht oder sogar der Entzug der Fahrerlaubnis.
Der Angeklagte beschreibt seine Sicht knapp. "Ich dachte, ich könnte die Kurve einsehen. Ich dachte, ich schaffe das." Auf dem Bildschirm zeigen die Unfallfotos die Wucht des Aufpralls: stark eingedrückte Fahrerseiten, eine von innen herausgedrückte Tür und ein verdrehter Reifen. Die Folgen des Überholvorgangs ziehen sich über 157 Meter - von der Stelle, an der der Fahrer ausscherte, bis zu dem Punkt, an dem sein Wagen zum Stehen kam.
Zeugen berichten von den Folgen
Die erste Zeugin starrt lange auf den Bildschirm, erkennt ihr eigenes Auto. "Körperlich hatte ich nur Prellungen", sagt sie und ergänzt: "Aber psychisch hat es mich schwer getroffen." Ein halbes Jahr lang war sie arbeitsunfähig. Auch der zweite Zeuge schildert seine Erinnerungen. Als er sah, dass der Angeklagte zum Überholen ansetzte, habe er gedacht: "Das wird sportlich - siehst du die Scheinwerfer nicht?" Seine Fahrertür klemmte nach dem Unfall. Als der Airbag auslöste, dachte er, das Auto brenne. "Ich habe die Tür rausgetreten", sagt er. Bis heute träumt er von der Szene. Mittlerweile habe er gemerkt, dass er Hilfe braucht. Als Lkw-Fahrer wolle er aber seinen Job behalten.
Richter mahnt - und vertagt
Richter Redlin hört aufmerksam zu, fragt nach. "Ich schätze Sie nicht so ein, dass Sie jeden Tag Kamikaze zur Arbeit fahren", sagt er zum Angeklagten. Doch er macht deutlich, worum es jetzt geht: Fahrlässigkeit oder Vorsatz.
Im ersten Fall wäre ein dreimonatiges Fahrverbot die Folge. Im zweiten stünde der Entzug der Fahrerlaubnis im Raum. "Sie haben Glück gehabt, dass niemand ums Leben kam", betonte der Richter noch einmal.
Zu einem Urteil kam es an diesem Tag nicht. Denn der Lkw-Fahrer, den der Angeklagte ursprünglich überholen wollte, ist versehentlich nicht geladen worden. Ein weiterer Verhandlungstag ist daher nötig. Erst dann wird sich klären, ob das Überholmanöver als fahrlässig oder vorsätzlich rücksichtslos bewertet wird - und welche Strafe der Angeklagte zu erwarten hat.