
Hans Christian Andersens Scherenschnitt-Poesie fasziniert im Schloss Ritzebüttel
Hans Christian Andersens Scherenschnitte und Zeichnungen enthüllen eine unbekannte Seite des berühmten Märchendichters. Ein Vortrag im Schloss Ritzebüttel in Cuxhaven lässt seine Poesie mit Feder und Schere lebendig werden.
Seine so besonderen Märchen sind weltberühmt und bezaubern heute wie damals Millionen und Abermillionen von kleinen und großen Lesern. Dass der dänische Dichter Hans Christian Andersen aber auch in seinen Scherenschnitten und Federzeichnungen ein wahrer Poet war, dürfte jedoch nicht jedem so präsent sein. Und um genau diese Seite des Märchendichters ging es im Schloss Ritzebüttel beim Vortrag des Bremer Kunsthistorikers Detlef Stein.
Mit ihrer Ausstellung "Hans Christian Andersen. Poet mit Feder und Schere" hatte die Kunsthalle Bremen vor einigen Jahren (Oktober 2018 bis Februar 2019) mit so mancher Entdeckung aufwarten können. Vor allem mit den zu Lebzeiten Andersens nie gezeigten Federzeichnungen, aber auch mit einem neuen, sehr dezidierten Blick auf die Scherenschnitte, Collagen und "Tuschklecksbilder" des Dänen. Stein, seit Jahren gern gesehener Referent im Rahmen der kunsthistorischen Vortragsreihe der Ernst-Gock-Gesellschaft, hat seinerzeit die Bremer Ausstellung kuratiert. Zum 150. Todestag Hans Christian Andersens widmete er im Schloss noch einmal dessen Scherenschnitt-Poesie.
Mitgebracht hatte Stein den Pianisten Viktor Soos. Er zählt zu den herausragenden Pianisten seiner Generation, ist mehrfach preisgekrönt und Pianist des Confrigo Klavierquartetts. Mit einem Satz aus Edvard Griegs "Holberg-Suite" und aus dessen "Lyrischen Stücken", mit Robert Schumanns "Humoreske" und Werken von Felix Mendelssohn-Bartholdy legte er den Fokus auf Andersens Affinität zur Musik seiner Zeit. Und damit zugleich auch auf die ganz persönlichen Kontakte des Märchendichters, denn - weitgereist wie er war und stets den Menschen zugetan - hat er sowohl Robert und Clara Schumann als auch Grieg gekannt.

"Nutze deine Fantasie!", hatte der Vater des in armseligsten Verhältnissen aufgewachsenen Hans Christian Andersen einst gesagt, und genau das tat der Sohn sein Leben lang. Vierzehnjährig machte er sich, ausgestattet mit zwölf Reichstalern, von Odense auf der Insel Fünen als Kutschendach-Passagier auf nach Kopenhagen. Sein Ziel: das dortige Königliche Theater, wo der hoch aufgeschossene, 1,80 Meter große, dürre Junge Schauspieler und Tänzer werden wollte. In der Hauptstadt angekommen, sprach er bei einflussreichen Leuten vor, gab Lieder und Tanzeinlagen zum Besten und bedankte sich für die Gunst mit Zeichnungen für die Kinder der Leute.
Dass es in Kopenhagen jener Zeit einflussreiche Leute gab, die das Besondere in diesem ungewöhnlichen Jungen erkannten, war Hans Christian Andersens Glück. So geriet er an Jonas Collin, den Finanzberater des dänischen Königs und Direktor des Königlichen Theaters, der ihn unter seine Fittiche nahm und ihm eine Ausbildung an den Lateinschulen in Slagelse und später Helsingör ermöglichte, bis hin zum Universitätsstudium in Kopenhagen. Als Andersen 26-jährig zum ersten Mal Dänemark verließ, führte ihn seine erste Reise nach Deutschland, wo er im Harz zum "leidenschaftlichen, eigenwilligen Zeichner" wurde. Reisen wurden, so Stein, zu des Dichters "Lebenselexier". Zusammengerechnet würde Andersen insgesamt neun Jahre auf Reisen sein, große Teile Europas sehen und Hunderte Zeichnungen machen.
Sie sollten nie gezeigt werden und waren dennoch eng mit seinem Prosa-Werk verbunden. Mit ihnen hatte Andersen sich Stein zufolge "Erinnerungsstücke" geschaffen.
Ganze Passagen seines ersten Romans "Der Improvisator" habe der Dichter nach den Zeichnungen geschrieben. Hans Christian Andersens Geburtsstunde als Märchendichter fällt in das Jahr 1835, da ist er 30 Jahre alt. Nach und nach erwirbt er sich einen Ruf als Märchendichter, will als scharfer Beobachter eben nicht nur für Kinder, sondern sehr wohl auch für Erwachsene der Märchendichter sein. Seine Papierkunst entsteht scheinbar nebenbei. Wenn er Kindern Geschichten erzählt, erwachsen aus seinen Händen geheimnisvolle Scherenschnitte mit Motiven seiner Märchenfiguren, mit exotischen Vögeln oder Tänzerinnen. Eine Überraschung, auch für Kenner des Märchendichters, sind Andersens Collagen aus den 1850er Jahren, wo er Fotos, Opernbilette und ausgeschnittene Gedichte zu Papierkunstwerken zusammenfügt.
Hans Christian Andersen, der zeitlebens unglücklich Verliebte (und das nicht nur in die "schwedische Nachtigall" Jenny Lind), richtet sich erst mit über 60 eine eigene Wohnung ein. Mittendrin ein Wandschirm, auf dem er seine Lebensstationen und zahlreichen Reiseziele zu einer Riesencollage verarbeitet.
Von Ilse Cordes