
Keine Vorzüge als einstige Ortskraft: Familie aus Cuxhaven saß fast auf der Straße
Deutschland wollte den afghanischen Ortskräften helfen, aber nun macht eine fünfköpfige Familie - seit fast vier Jahren voll integriert in Cuxhaven - erst mal Bekanntschaft mit unerbittlicher Bürokratie. Wieder musste sie ein Zuhause verlassen.
Es war im Dezember 2021, als sie sich binnen weniger Stunden entschieden, ihr Leben für immer zu verändern. Deutschland bot ehemaligen Ortskräften aus Afghanistan die Aufnahme an. Obwohl eine dieser Familien mit drei Kindern seither voll integriert in Cuxhaven lebt, ist sie vor wenigen Tagen nur knapp der Obdachlosigkeit entgangen. Sie lebt nun in zwei Zimmern in einem der entlegensten Winkel des Stadtgebiets. Wie ist es zu dieser Situation gekommen?
Die Bilder aus Afghanistan ließen im August 2021 den Atem stocken: Nur Stunden nach dem Rückzug der letzten NATO-Kräfte fuhren Taliban schwer bewaffnet durch die Straßen; am Flughafen in Kabul drängten sich verzweifelte Menschen in der Hoffnung, doch noch irgendwie außer Landes zu kommen. Zurück blieben auch viele, die bis dahin als Ortskräfte für die örtliche Botschaft, die Bundeswehr und die NATO gearbeitet hatten. Jetzt waren sie nicht nur wegen ihrer früheren Tätigkeit bedroht, sondern auch durch die Willkür eines rückwärtsgewandten Terrorregimes ohne Rücksicht auf politisch Andersdenkende.
Entscheidung bestimmt das ganze Leben
Kurz vor Weihnachten 2021 kam der entscheidende Anruf. Die Familie wurde ausgeflogen, verbrachte eine Nacht in einem Aufnahmelager und kam dann nach Cuxhaven. Ein Asylverfahren musste sie wegen des zugesicherten Aufenthaltsstatus nicht durchlaufen.
Es ging in eine durch den Landkreis gestellte 70-Quadratmeter-Wohnung im Lehfeld. "Ich wusste, dass wir bald eine eigene Wohnung finden mussten", versichert der Familienvater, studierter Politologe und einstiger Hochschullehrer. Doch kam es mal zu einer Besichtigung, sei stets anderen der Vorzug gegeben worden. "Es gab immer nur Absagen oder gar keine Reaktion." Nicht mal eine Zwei-Zimmer-Wohnung war aufzutreiben.
Unterstützt durch das Offene Herz Altenwalde
Unterstützt wurde und wird die Familie durch das Offene Herz Altenwalde und die Patin und inzwischen auch mütterliche Freundin Heike Hebecker. Dort war das Entsetzen ebenso groß wie bei der Familie selbst, als der Landkreis die allerletzte Frist für das Verlassen der Wohnung für den 30. September ansetzte. Die Verwaltung beharrte nach mehrmaliger Fristverlängerung darauf, dass die Familie aufgrund des Leistungsbezugs durch das Jobcenter die durch den Kreis angemietete Wohnung verlässt - auch wenn im schlimmsten Fall eine Obdachlosigkeit droht.
Lieber Notunterkunft als Eskalation
Auf eine Eskalation wollte es die Familie auf keinen Fall ankommen lassen. Vergangene Woche zog sie in die durch die Ordnungsbehörde der Stadt zugewiesene Unterkunft. Am liebsten würde sie völlig lautlos endlich in einem Alltag ankommen, für den sie sich bewusst entschieden hat: "Wir haben nicht um Hilfe gebeten, sondern Deutschland hat uns die Aufnahme angeboten. Wir fühlen uns hier angekommen und dem Land sehr verbunden. Deutschland ist für uns kein fremdes Land, sondern eine zweite Heimat und wir respektieren die deutsche Lebensart ohne Blick auf Stand, Beruf und Religion", versichert der 40-Jährige - alles in sehr gutem Deutsch.
Familie bringt eine Menge in die Gesellschaft ein
Das Sprachzertifikat C1 bescheinigt ihm Deutschkenntnisse auf einem weit fortgeschrittenen Niveau, seine Frau hat bereits das B1-Zertifikat erlangt und spricht ebenfalls gut Deutsch. Beide beherrschen außerdem neben ihrer Muttersprache Persisch und Deutsch fließend Pashtu, Urdu und Englisch, er kann außerdem Arabisch lesen und verstehen. Die drei Söhne besuchen eine Realschule, eine Grundschule und eine Kindertagesstätte.
Alles Orte, die bislang leicht zu Fuß zu erreichen waren. Die Notunterkunft liegt allerdings weitab. "Immerhin haben wir ein Auto, so schaffen wir das", gesteht die Familie ein. Eine im selben Haus lebende Familie mit zwei Kindern, darunter einem Baby, müsse hingegen alles zu Fuß erledigen. "Wie sollen diese Eltern unter solchen Umständen jemals arbeiten?", fragen sie sich mitfühlend.
Arbeit bedeutet auch Identität
Arbeit ist auch für den Familienvater ein großes Thema: "Das ist meine Identität." Einzubringen hat er viel, kann sich jedwede Tätigkeit im Büro, in Verwaltungen, Bildungs- und anderen sozialen Einrichtungen oder ganz anderen Bereichen vorstellen; auch außerhalb Cuxhavens.
Er glaubt, dass viele Missverständnisse zu der aktuellen Lage beigetragen haben. Er wünscht sich positive und konstruktive Beziehungen auf Gegenseitigkeit - so wie es in der bisherigen Nachbarschaft war: "Wir hatten im ganzen Haus sehr gute Beziehungen. Als wir den drohenden Auszug ankündigten, waren alle erschüttert und traurig und wollten sogar demonstrieren. Es hat uns glücklich gemacht, zu sehen, dass andere Leute mit uns zufrieden sind."
Zumindest die Obdachlosigkeit abgewendet
Das Engagement der Nachbarn lobt auch der Sozialdezernent des Landkreises Friedhelm Ottens. Dennoch verteidigt er die Position des Landkreises: "Es ist nicht super in der derzeitigen Unterkunft, aber die Familie ist nicht obdachlos." Kreis und Stadt hätten gemeinsam nach einer solch vertretbaren Möglichkeit gesucht.
Wohnraum für neue Flüchtlinge benötigt
Die deutschen Sozialgesetze sähen vor, dass Leistungsbezieher nach dem SGB II sich selbstständig eine Wohnung suchen müssten. "Auch wenn deren Zahl sinkt: Wir brauchen unsere Wohnungen für neue Flüchtlinge. Sie kommen noch", erklärt Ottens. "Ich verstehe die Unruhe, aber wir müssen dennoch alle gleich behandeln." Die Situation sei auch für ihn nicht leicht, zumal es noch viele gleichgelagerte Fälle gebe.
Sozialer Wohnraum und Arbeit sind der Schlüssel
"Das wahre Dilemma besteht darin, dass es einfach nicht genug sozialen Wohnraum gibt", sagt er. Für ihn ist das eine Verpflichtung, der sich Politik und Kommunen stellen müssen. Zusätzlich müsse der Arbeitsmarkt - Verwaltungen inbegriffen - den Neuzugängen reguläre Arbeitsverhältnisse anbieten - auch eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Wohnungssuche.
Wie viele Personen wird das Schicksal noch treffen?
"Ich verstehe diese Argumentation trotzdem nicht", sagt Mirjam Schneider vom Offenen Herz Altenwalde. "Das Jobcenter würde die Miete doch an den Landkreis überweisen. Warum hätte die Familie nicht einfach die Wohnung übernehmen können?" Sie macht sich Sorgen, dass in den kommenden Monaten ein ähnliches Schicksal noch auf zahlreiche weitere Betroffene zukommt.